Diversität im Wissenschaftskanon
Kleine Fächer sind unverzichtbarer Teil unseres kulturellen Gedächtnisses
Auch Kolonialgeschichte galt einmal als Orchideenfach. Oder sollte man besser sagen: Sie war eine Nische innerhalb einer Geschichtswissenschaft, in der – wie man lange überzeugt war – bedeutendere Fragen im Vordergrund standen als jenes kurze Kolonialabenteuer in der deutschen Geschichte. Es ist auch noch gar nicht so lange her, dass man im Afrika-Lesesaal einer deutschen Stadt- und Universitätsbibliothek der einzige Benutzer war, was paradiesische Arbeitsbedingungen bot, für die man den belustigten Blick der Kommilitonen gerne in Kauf nahm. Dass aus der deutschen Kolonialgeschichte einmal ein Schlüsselthema für die Gegenwart werden könnte, hätte man damals kaum für möglich gehalten. Wie überhaupt die Betreiber von Orchideenfächern in aller Regel bescheidene Leute sind, die sich zufriedengeben, wenn vom Tisch der großen Fächer noch etwas abfällt. Mein früherer Nachbar, der zu den wenigen Spezialisten weltweit gehört, der alte tibetische Handschriften lesen kann, hat sich zur Sicherheit noch ein Baugeschäft zugelegt und züchtet jetzt Yaks in den Schweizer Bergen. Man kann ja nie wissen, was die akademische Zukunft so bringt.
Denn wann immer es finanziell eng wird an deutschen Hochschulen, geraten die Orchideenfächer fast zwangsläufig ins Visier, mit denen man sich – wie der Name schon sagt – auch gelegentlich schmückt. Schönwetterforschung eben, solange man sie sich leisten kann.
Das Phänomen ist alt und breitet sich wie die Vogelgrippe oder die Schweinepest aus. In aller Regel beginnt man dann mit dem Keulen. In den 1990er Jahren hat man die Osteuropaforschung beräumt, sinnvollerweise parallel zur Osterweiterung der Europäischen Union. In Göttingen ist die Skandinavistik jetzt im Visier. Man will sie am Leben lassen. Auch die Universität Halle-Wittenberg ist jetzt wieder mal dran, wo das ruhmreiche Institut für Altertumswissenschaft geopfert werden soll. Was heißt es auch schon, dass dieses Fach dort erfunden wurde; dass der große August Boeckh dort studierte und der Altphilologe Carl Robert die griechische Mythologie Prellers weitergeführt hat. Zum Glück gibt es ja Wikipedia, denn diese Namen werden der Hochschulleitung nichts sagen. Die legt andere Kriterien an, wie erfolgreiche Drittmitteleinwerbung oder wachsende Studierendenzahlen. Und weil man so schön beim Auskämmen war, wären auch noch die asiatischen Wissenschaften verschwunden. Wer braucht auch schon Indologie, und von den Japanern will man erst recht nichts mehr wissen.
Mit einem öffentlichen Aufschrei hatte die Hochschulleitung wohl nicht mehr gerechnet und die Pläne wie eine heiße Kartoffel schnell wieder fallen gelassen. Ein kleiner Sieg der Vernunft, möchte man meinen, in einer Stadt, in der Aufklärung ganz tiefe Wurzeln hat. Aber das hilft alles nicht weiter, solange sich solche Fächer mit Hilfsargumenten verteidigen müssen. Denn es geht nicht nur um Etats. Gemessen an den Mitteln, die für Großforschungseinrichtungen eingeplant werden, reden wir wirklich von Peanuts. Es gibt vielmehr ein Begründungsproblem dieser Wissenschaften; und daran sind die betroffenen Fächer mit schuld. Es fehlt ihnen auch nicht an Förderprogrammen und eine eigene „Arbeitsstelle Kleine Fächer“ existiert an der Universität Mainz auch. Aber ohne eine eigene, vernehmbare Antwort auf den fundamentalen Wandlungsprozess in den Kultur- und Geisteswissenschaften, wird ihre Lage nicht besser.
Der Islamwissenschaftler Stephan Conermann hat deshalb schon vor Jahren eine Neubestimmung der disziplinären Grenzen „im Zuge des cultural turns“ gefordert und die berechtigte Frage gestellt, wie man das „verloren gegangene kreative und gesellschaftsrelevante Potential“ dieser kleinen Fächer wiedergewinnen kann. Aber das ist eine zweischneidige Sache. Der Angriff erfolgt ja von mehreren Seiten. Nicht nur der Nutzen dieser Fächer ist heute umstritten; auch die Notwendigkeit einer eigenen Rolle. Viel größer noch als die Gefahr, dem Sparzwang zum Opfer zu fallen, ist die Gefahr in jenem kulturwissenschaftlichen Einheitsbrei zu verschwinden, der die postmoderne Wissenschaftslandschaft zähflüssig überzieht. Die Vorstellung in einer eigenen Forschungstradition zu stehen und diese auch weitergeben zu wollen, droht verloren zu gehen. Stattdessen versucht man das eigene Fachgebiet zu überschreiben mit all den modischen Begriffen, die der Zeitgeist so anschwemmt.
Dazu kommt, dass die akademischen Zyklen immer hektischer werden und die universitäre Welt von heute durch einen akademischen „Mittelbau“ geprägt wird, dessen Vertreter sich in immer kürzeren Abständen von Projekt zu Projekt weiterhangeln müssen. Fluktuation schaffe Innovation, heißt es dazu in einem Werbevideo des Forschungsministeriums lakonisch, was einen Proteststurm auf Twitter ausgelöst hat. Die in den hermeneutischen Wissenschaften so wichtige Traditionsbildung ist in solchen Konstellationen kaum mehr möglich, was immer dann schmerzhaft deutlich wird, wenn man gelegentlich das Gegenmodell sieht. In der Tradition Theodor Mommsens habe er „sein ganzes Forscherleben dem griechischen Inschriftenwerk der Berliner Akademie“ gewidmet, heißt es etwa bei der Verleihung des Karl-Christ-Preises an den Epigrafiker Klaus Hallof. Ob einer solch rührenden Begründung könnten einem fast schon die Tränen kommen.
Man fragt sich überhaupt, warum das so inflationär gebrauchte Wort Diversität für den wissenschaftlichen Kanon nicht gelten soll; ja: warum die Vielzahl der kleinen Fächer einer besonderen Begründung bedarf, wenn sie doch als unverzichtbarer Teil unseres kulturellen Gedächtnisses gelten. Das jüngste Eckpunktepapier des bayrischen Wissenschaftsministerium fragt stattdessen nach dem Mehrwert dieser Fächer. Darauf könne man, meint der Münchner Orientalist Christoph K. Neumann, gar keine einfache Antwort mehr geben. Die Aufgabe seines Faches sei doch eher „Wissen zu bewahren, Erkenntnisse zu erlangen und neue Perspektiven zu eröffnen“. Grundsätzlicher kann man es gar nicht sagen.
Der vielbeschworene „cultural turn“ in den heutigen Kultur- und Sozialwissenschaften steht dieser Einsicht nicht wirklich entgegen. Im Gegenteil bedeutet er doch den Abschied von den Großtheorien, den Meistererzählungen und der üblichen Tonnagepolitik im heutigen Wissenschaftsbetrieb. Wir lernen stattdessen, unsere Moderne wieder im Plural zu denken. Die kleinen Fächer bieten das Rüstzeug dafür.
Der italienische Kulturtheoretiker und Kommunist Antonio Gramsci war an der Turiner Universität eben nicht nur mit der Bewegung des Futurismus in Berührung gekommen oder der Ideenwelt Benedetto Croces. Sein wohl prägender Lehrer war der dalmatische Sprachwissenschaftler Matteo Bartoli; gemeinsam betrieben sie Dialektforschung an einer ausgestorbenen winzigen Sprache. Das wirkt aus heutiger Sicht fast schon bizarr. Aber womöglich gab es den entscheidenden Anstoß, Kultur und Gesellschaft von den Rändern her zu denken. Die heutigen Wissenschaftsmanager wird man mit solchen Argumenten nicht überzeugen können. Aber was die für das Wissen von gestern halten, könnten längst schon wieder die Ideen für eine Gesellschaft von morgen sein.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2021.
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