Peter Grabowski - 28. Januar 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Diese Normalität darf nicht zurückkehren: Am Sinn für tatsächliche Relevanz herrscht im Kulturbetrieb erschreckender Mangel


Ein Kommentar von Peter Grabowski

„I ch gehe im Moment davon aus, dass wir ab Mitte Februar wieder öffnen“, erklärte Yilmaz Dziewior, der Direktor des Museum Ludwig in Köln, am 21. Januar im Deutschlandfunk Kultur. Das war eine bemerkenswerte Aussage an einem Tag, an dem das Robert-Koch-Institut etwas mehr als 20.000 neue Corona-Fälle vermeldete und die zentrale 7-Tage-Inzidenz bei 119 lag. Zuvor hatte die Interviewerin den Staatssekretär im NRW-Kulturministerium, Klaus Kaiser (CDU), mit dem Satz zitiert, Bibliotheken und Museen würden als Erste wieder öffnen.

 

Gemeint war damit allerdings nur, dass Bühnen und Musikstätten später dran seien; von einer baldigen Wiederzulassung des Publikums hatte Kaiser nicht gesprochen. Im Gegenteil: „Kurzfristig wird es nicht so weit sein“, antwortete er auf Nachfrage im Kulturausschuss des Düsseldorfer Landtages. Dort wurde anschließend so manche Prognose geäußert, der Februar kam in keiner vor. Einige nannten Ostern als frühesten Termin; der Ausschussvorsitzende Oliver Keymis von den Grünen, ein gelernter Theaterregisseur, hielt dagegen den späten Sommer für realistisch.

 

Der Museumsdirektor und die Kulturradiofrau hatten also offensichtlich nur das gehört, was sie gern hören wollten – ein Fall von selektiver Wahrnehmung. Viele im Kulturbetrieb offenbaren derzeit eklatante Schwächen im Umgang mit der Wirklichkeit. Das betrifft nicht nur Öffnungsszenarien oder die Unfähigkeit zu verstehen, dass man den Verlauf einer Epidemie auch dann nicht planen kann, wenn sich das alle ganz doll wünschen. Richtig bitter wird es immer, wenn Politikverständnis gefragt ist. Denn natürlich kann man Museen, Theater oder gar Opernhäuser nicht offen lassen, während Restaurants und Fitnessstudios geschlossen sind. Entgegen aller mantrahaft wiederholten Beteuerungen aus der Kultur ist das keine Frage des Hygienekonzepts, sondern der Psychologie: Der Staat kann den in der öffentlichen Wahrnehmung eh schon als privilegiert geltenden Teil der Gesellschaft nicht auch noch in der Krise demonstrativ bevorzugen.

 

Hinter dem Unverständnis vieler Kulturakteure steckt ein grundsätzliches Problem, eine Art Lebenslüge. Beinahe täglich verkündet gerade irgendwo eine Museumsdirektorin, ein Intendant und leider auch gern mal eine Kulturpolitikerin das unmittelbar bevorstehende Ende der Demokratie, wenn die „nach Kultur hungernde“ Bevölkerung nicht ganz flott wieder in den Saal darf. Da fragt man sich nicht nur als journalistischer Beobachter: Ist alles in Ordnung bei euch? Nehmt ihr vielleicht Drogen oder ist es doch … das Virus? Man muss es also mal derart deutlich und vor allem laut sagen, dass die Botschaft auch in den obersten Etagen der Elfenbeintürme des deutschen Kulturbetriebes endlich ankommt: Der Diskurs über die öffentliche Sache, die Aushandlungen der „Stadtgesellschaft“ und das Gespräch darüber, wie die Menschen leben wollen, findet schon seit Jahren in den Massen- und/oder sozialen Medien statt, nicht in Museen oder Theatern. Da lungern in Wahrheit nämlich – außerhalb ebenso ambitionierter wie verdienstvoller Einzelprojekte – bloß lauter Leute rum wie wir: besser gebildet oder verdienend oder beides, dazwischen ein paar Ringeltauben, die in ihren angestammten sozialen Räumen und Milieus mentale Fremdkörper sind wie der „Morganatische Maurer“ von Max Goldt.

 

Und wenn wir wirklich ehrlich mit uns selbst sind, dann gehen wir doch nicht deswegen in Stücke von Elfriede Jelinek und Ewald Palmetshofer oder Ausstellungen von Hito Steyerl und Joseph Beuys, um uns da von „künstlerischen Interventionen irritieren zu lassen“ oder „ganz neue Sichtweisen auf die Welt zu erleben“. Uns irritiert nämlich längst nichts mehr: Gegenwarts- und Postdramatik, zeitgenössische Musik und Medienkunst sind schlicht unsere Freizeitaktivitäten – das böse Wort! Daran ändert auch ihr intellektueller Anspruch nichts.

 

Und macht euch nix vor: Wenn wir hochfrequenten Kulturnutzende eine politische Partei wären, würden wir bei jeder Wahl an der Fünfprozenthürde scheitern. Das wissen doch eigentlich auch alle – oder ahnen es zumindest.

 

Die Kulturfabrik Kampnagel in Hamburg ist eines der ganz wenigen Häuser der Republik, die wirklich in die Stadtgesellschaft wirken und das nicht nur immer behaupten. Die Intendantin Amelie Deuflhard – eine der Ambitionslosigkeit seit Jahrzehnten unverdächtige Spitzenkraft – hat neulich in einem Interview den klugen Satz gesagt: „Ich finde natürlich auch, dass Theater superwichtige Orte sind, aber vielleicht sollten wir mal ein bisschen zurücktreten und uns nicht so hyperüberschätzen.“ An diesem Sinn für tatsächliche Relevanz, die man sich nie selbst verleihen kann, weil sie nur durch Wertschätzung in der Gesellschaft entsteht, herrscht im deutschen Kulturbetrieb ein erschreckender Mangel. Den hat die Pandemie, wie unter einem Brennglas, endgültig unübersehbar gemacht. Er gehörte zu einer Normalität, in die es keine Rückkehr geben darf – nicht im Februar, nicht an Ostern und nicht im Sommer.

 

Zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2021.

 


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