Johann Michael Möller - 28. Mai 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Corona vs. Kultur / Texte zur Kulturpolitik

Die Zerreißproben stehen bevor


Von Herfried Münkler, dem bekannten Politikwissenschaftler, stammt der Satz, große Teile des Volkes seien einfach nur dumm. Er hat ihn über die Wähler von Donald Trump gesagt und ist dafür zu Recht kritisiert worden. Aber sind wir doch ehrlich. Bei vielen Äußerungen auf den aktuellen Anti-Corona-Demonstrationen ertappt man sich selbst bei solchen Gedanken. Es ist viel wirres Zeug, was man zu hören bekommt. Und die meisten Leute, die es verbreiten, sind es wohl auch. Wo, muss man sich inzwischen fragen, ist die Aufklärung der letzten Jahrhunderte eigentlich geblieben? Der Lack einer vernünftigen Moderne, er blättert erschreckend schnell ab. Was aber sagen solche Hirngespinste über unsere Zeit und diese Gesellschaft aus? Eine befriedigende Erklärung habe ich nicht gefunden. Nicht bei der Politik und nicht bei den Sozialpsychologen, die uns derzeit erklären, dass auch Wahnsysteme echte Geborgenheit bieten. Doch das hilft uns nicht weiter.
Die Umfragen zeigen zum Glück das Gegenteil einer übernervösen Gesellschaft. Sie offenbaren vielmehr eine kreuzbrave Mehrheit, die sich den staatlichen Eindämmungsmaßnahmen fügt; und dass sich überforderte Eltern oder bankrotte Kneipenbesitzer inzwischen verzweifelt zu Wort melden, widerspricht diesem Bild keineswegs. Die sagenhafte Geduld der letzten Wochen geht jetzt zu Ende und auch die Bereitschaft, einer Expertenlogik zu folgen, die sich inzwischen auch selbst widerspricht. Die Stimmung kippt gerade und die anfängliche Rationalität scheint einer wachsenden Irrationalität weichen zu wollen. Bill Gates und seine geheimen Absichten oder die Aluhüte gegen Verstrahlung – es ist nicht schwer, das alles ins Lächerliche zu ziehen.

 

Aber diffuse Ängste lassen sich nicht einfach zerstreuen und viele Fragen stehen im Raum. Weiß die Politik wirklich, was sie da tut? Haben die Fachleute immer noch Klarheit über den richtigen Weg? Überhaupt: Sind wir nicht längst dabei, unsere freie Gesellschaft zu erwürgen, von der wir behaupten, sie retten zu wollen? Die Stimmen häufen sich, die so etwas sagen; und sie werden von Tag zu Tag lauter. Es sind nicht nur die altbekannten Apokalyptiker wie der italienische Philosoph Giorgio Agamben, der nicht müde wird, vor der Zerstörung der individuellen Freiheit zu warnen. Viel beunruhigender: Es sind die Leute von nebenan, die sich solchen Gedanken anschließen; vernünftige Nachbarn, die wir lange schon kennen und die nie in die radikale Ecke gehörten. Wohl jeder von uns kennt solche Leute; fast jeder ringt mit einer Erklärung. Was uns Sorge bereiten sollte: Dass nicht bloß die Ränder vibrieren, sondern das Irrlichtern wohl schon die Mitte unserer Gesellschaft erfasst. Darunter sind “Rechte und Linke, Hippies und Nazis, Unternehmer und Juristen”, wie die FAS schreibt; es sind alte Bekannte, aber auch immer mehr neue.

 

In Berlin ist jetzt eine Gruppe entstanden, die sich “1 bis 19” nennt, nach den Grundgesetzartikeln, in denen es um die Freiheiten geht. Gegründet hat sie ein Literaturagent, eine Juristin, ein Arzt und ein Offizier, erfolgreiche Leute, die nur das tun, was von Zivilgesellschaften immer gefordert wird: Haltung zeigen; und sie haben ehrbare Motive und gute Argumente. Das schützt sie nicht vor Verdächtigungen oder gar Anfeindungen und schon gar nicht vor einem obskuren Umfeld, mit dem man sie in Verbindung zu bringen versucht.

 

Wenn man ihnen weder Sektierertum noch eine extremistische Gesinnung unterstellen kann, dann muss es der Lebensstil sein, der ihre Haltung begründet; der einer frivolen, genusssüchtigen Generation von Babyboomern, die sich lieber maskenfrei in der Sonne rekeln, als die Welt retten zu wollen. Sie haben schon einen Namen, diese YOLOs, auf die sich der Zorn der gnadenlos Jungen richtet. Der Klimaprotest hat sein neues Nahziel gefunden. Wir Jungen, heißt das, bringen heldenhaft Opfer, und die Risikogruppe macht, was sie will. YOLO klärt uns Livia Gerster in der FAZ auf, heißt so viel wie: “Man lebt nur einmal, also lasst die Korken knallen.” Auch so kann man Freiheit diskreditieren.

 

Verabscheuungswürdiger als die Spaßalten sind noch die Populisten, die auf der Anti-Corona-Welle zu surfen versuchen; ohne Fortune, wie die Umfragen zeigen. Man möchte dieser bizarren Mischung aus Eiferern und Besorgten, aus Impfgegnern und Extremisten, aus radikal Libertären und bürgerlichen Skeptikern am liebsten den Rücken kehren und stattdessen auf die stabile Ordnung verweisen, die unser Land nach wie vor hat; in der das Vertrauen der Deutschen in ihre politische Führung auf einen Rekordwert steigt und wo dem Erfindungsreichtum kaum Grenzen gesetzt werden. Aber das ist eben nur die eine Sicht. Es gibt auch eine andere. Das politische Leben, das nach der Schockstarre jetzt wieder aufzuwachen beginnt, dürfte kein anderes sein als vor dem Lockdown. Wie hinter einer Milchglasscheibe nur noch etwas verschwommen zeichnen sich die alten Frontlinien wieder ab. Auch nach Corona bleibt diese Gesellschaft gespalten und die Tiefe der Gräben nimmt eher noch zu. Nichts wurde durch die Krise wirklich zusammengeschweißt.

 

Das merkt man schon an der Art der Debatten. Es geht schon gar nicht mehr um das Virus; es geht um altes Misstrauen, um bekannte Vorwürfe und eine neue Form von politischer Maskenpflicht. Die Anti-Corona-Bewegung sei “hochgefährlich” kann man jetzt überall lesen und es erklingt schon wieder der altbekannte Besorgniston. Wie sagte schon Antoine de Rivarol vor 200 Jahren? Natürlich liege die Souveränität beim Volk, aber ausüben dürfe es diese auf gar keinen Fall.

 

Dabei gibt es nach langen, geduldig ertragenen Wochen keinen wirklichen Grund, der Mehrheit in der Bevölkerung zu misstrauen. Die nächsten Zerreißproben stehen noch bevor, wenn die wirtschaftlichen Schäden sichtbar werden und die Verteilungskämpfe beginnen. Wie soll ein Land damit fertig werden, das sich selbst nicht vertraut? Wir sprechen von der Hermeneutik des Verdachts. Dieser Verdacht hat sich so tief in unser Denken und Handeln eingenistet, dass er uns zu lähmen droht. Der Lockdown geht zwar zu Ende. Aber jetzt entscheiden wir, wie frei, wie ungezwungen wir künftig leben wollen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2020.


Copyright: Alle Rechte bei Deutscher Kulturrat

Adresse: https://www.kulturrat.de/themen/texte-zur-kulturpolitik/die-zerreissproben-stehen-bevor/