Juliane Stegner - 6. November 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Die Wiege der europäischen Kultur


Kultur und Politik in Griechenland

Griechenland. Wiege der europäischen Kultur. Polis und Demokratie. Kulturelles Erbe. Die Idee der Europäischen Kulturhauptstadt ging von Griechenland aus, und Athen wurde erste Kulturhauptstadt Europas. Dennoch empfindet man sich in Griechenland mit dem Rest Europas kulturell nur schwach verbunden. Man reist auch noch heute, wenn man Griechenland in Richtung Nordwesten verlässt, „nach Europa“. Griechenland leitet seine Identität bis heute überwiegend aus der Antike ab. Ein Großteil der staatlichen Förderung fließt in den Erhalt des antiken Erbes. Gesellschaftlich und ökonomisch hat Griechenland seit Jahren unter den Auswirkungen einer monströsen Finanzkrise zu leiden: 27 Prozent Arbeitslosigkeit, geschätzt über 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Dazu kamen ab 2015 täglich etwa 5.000 Flüchtende über das Mittelmeer nach Griechenland. 50.000 Flüchtlinge sind inzwischen auf den Inseln und in den großen Städten gestrandet. Und seit Jahren sinken Gehälter, Einkünfte und Renten – die Steuern allerdings steigen.

 

Mit dem Wahlsieg der linksgerichteten Partei Syriza im Januar 2015 verband sich die Hoffnung gerade der jüngeren, gut ausgebildeten Generation auf ein Ende des Klientelismus, der europäischen Sparpolitik und eine Verschlankung des Verwaltungsapparates. Für das kulturelle Feld hoffte man auf mehr internationalen Austausch, Unterstützung für junge Kreative und die zeitgenössische Szene und auf eine überparteiliche europäische Förderpolitik für Experimente, Forschung und internationale Kooperationen. Kurz gesagt, man erwartete Ansätze einer Überwindung der sozioökonomischen Krise und jenseits der allgegenwärtigen klassischen Antike eine Öffnung hin zur zeitgenössischen Kultur und der darin verankerten Identität.

 

Angesichts der enormen ökonomischen, sozialen und humanitären Herausforderungen erscheinen derartige Hoffnungen und Erwartungen an eine neue Regierung hoch gesteckt. Allerdings hat die Verteilung der Verantwortung für kulturelle Angelegenheiten auf öffentliche und private Schultern in Griechenland Tradition. Und so konnten während der Krise Stiftungen wie die Onassis Stiftung und die Stavros Niarchos Stiftung, Banken und private Mäzene ihren kulturpolitischen Einfluss noch weiter ausbauen. Sie verfügen über dreistellige Millionenbudgets, die die Möglichkeiten des Ministeriums für Kultur und Sport weit übertreffen. Mit diesen Budgets fördern sie nationale Einrichtungen aller Kultursparten wie das Nationaltheater, das Staatsorchester, die griechische Cinemathek und die Nationalmuseen. Darüber hi­naus betreiben private Geldgeber eigene Museen, Kulturzentren mit internationalen Programmen, fördern lokale Produktionen und veranstalten Festivals zeitgenössischer Kunst. Im Februar 2017 wurde ein neues Kulturzentrum eröffnet, das die „neue Akropolis“ werden soll – mindestens aber ein Opernhaus, das international ganz vorne mitspielt. Rund 600 Millionen Euro hat dieses Gebäude des italienischen Stararchitekten Renzo Piano gekostet, das auch die Nationalbibliothek beherbergt. Das Gebäude mit Park und Infrastruktur ist ein Geschenk der Stavros Niarchos Stiftung an den griechischen Staat, der bald für Betrieb und Verwaltung zuständig und hoffentlich in der Lage sein wird, administrativ und finanziell diese Aufgabe zu übernehmen.

 

Die Stadtregierungen der größeren Zentren in Griechenland betreiben ihre eigene Kulturpolitik. In Athen hauptsächlich mit dem Ziel, die Stadt attraktiver für den Tourismus zu gestalten. Im Dezember 2017 erhielt die Stadt Athen den „Leading Culture Destinations Award“. In der Begründung hieß es, dass Athen es trotz Krise geschafft habe, seiner Kultur und dem Tourismus neuen Schwung zu geben. Der auch als „Museums-Oscar“ bekannte Preis wurde unter anderem für die Ausrichtung der documenta 14 und für das neue Niarchos Kulturzentrum verliehen. Auch Gelder aus dem Europäischen Struktur- und Investitionsfonds 2014 bis 2020 sollen helfen, Tourismus, Kultur und Kreativindustrie zu fördern. Erst unlängst wurde in Athen ein neues Zentrum mit Mitteln dieses Fonds finanziert, das neben einem Hallenbad, Sport- und Spielplätzen auch einen „Maker Space“ mit Ausstellungsfläche beherbergt. Es muss sich zeigen, ob es gelingt, diesen „Maker Space“ programmatisch mit Leben zu erfüllen und so vor allem jungen Griechen den Weg ins internationale Geschehen zu eröffnen. Die eigentliche Herausforderung dürfte dabei aber sein, das Netz der adminis­trativen Verwicklungen von städtischen, staatlichen und privaten Akteuren zu entwirren, die Verwaltung zu vereinfachen und die Verfahren transparenter zu gestalten.

 

Trotz Krise und jenseits institutioneller und privater Initiativen ist vor allem in Athen eine sehr lebhafte alternative Kulturszene entstanden: mehr als 200 freie Theater, unzählige Konzerte und Ausstellungen in Bars, verlassenen Gebäuden und Buchläden. Entstehen konnte das trotz oder gerade wegen der Krise, weil zahlreiche Künstler nicht aufgeben oder auswandern wollen. Sie schaffen sich ihre eigenen Projekte und Plattformen, ohne Honorar, mithilfe kleiner prekärer Jobs, oft unterstützt von ihren Familien – mit der festen Überzeugung, dass gerade jetzt gesellschaftliches Engagement geboten ist.

Deutschland und Griechenland sind durch langjährige Beziehungen verbunden, die sich weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart immer nur freundschaftlich gestalteten. Auf zivilgesellschaftlicher Ebene sind die Kontakte allerdings so eng und intensiv, dass sie auch die Turbulenzen der vergangenen Jahre überstehen konnten und das Vertrauen in die Arbeit der Goethe-Institute keinen Schaden genommen hat.

 

Die beiden Goethe-Institute in Athen und Thessaloniki gehören zu den ältesten Auslandsgründungen weltweit. Das Athener Institut ist sogar die allererste Institutsgründung (1952) außerhalb Deutschlands. Die Beziehungen zu den Instituten sind getragen von einer Vielzahl von Akteuren, die in den vergangenen sieben Jahrzehnten gemeinsam ein Netz kultureller und sozialer Beziehungen geknüpft haben. Das Vertrauen, das sich das Institut erwerben konnte, fußt auf einem intensiven Austausch mit den lokalen Akteuren in allen drei Arbeitsfeldern des Goethe-Instituts: der Förderung der deutschen Sprache, der Kultur- und Informationsarbeit. Eine ebenso wichtige Rolle spielen die Einhaltung hoher Qualitätsstandards und nicht zuletzt der sinnvolle Abstand zu den jeweiligen Regierungspolitiken.

 

Vor allem die zivilgesellschaftlichen Verbindungen blieben auch in politisch schwierigen Zeiten, als die Kritik an der deutschen Europapolitik sich auch im kulturellen Diskurs niederschlug, stabil. Im Vorfeld der documenta 14 wurde gegenüber der „deutschen Kulturinstitution“ documenta und deren künstlerischem Leiter, Adam Szymczyk, der Vorwurf erhoben, man habe sich Athen ausgesucht, um die Stadt und ihre Bewohner zum Experimentierfeld für Krisentourismus zu machen. Über das langjährige vertrauensvolle Verhältnis zur lokalen Kultur- und Intellektuellenszene gelang es dem Goethe-Institut Athen, ein vermittelndes Rahmenprogramm mit dem Titel „apropos documenta“ aufzusetzen, griechische und deutsche Akteure miteinander in Kontakt zu bringen und darüber hinaus internationale Gäste mit Kunst- und Kulturschaffenden aus Griechenland bekannt zu machen.

 

Nicht wenige griechische Kulturakteure äußerten sich bereits vor der documenta skeptisch und meldeten Zweifel an, ob die Athener Institutionen einsatzbereit und handlungsfähig genug seien, um die Dynamik der documenta nutzen zu können – oder ob sie nach dem Ende der documenta einen Rückfall in die alten Verhältnisse erleben würden, wie auch nach den Olympischen Spielen im Jahr 2004 geschehen.

 

Dass diese Befürchtungen durchaus berechtigt sind, musste auch das Goethe-Institut bereits im Herbst erfahren. Auf der Suche nach einem Ausstellungsraum hatte uns das gerade erst zur documenta eröffnete Nationalmuseum für zeitgenössische Kunst EMST kurzfristig abgesagt. Hier rächte sich die jahrzehntelange Vernachlässigung der kulturellen Infrastruktur. Es fehlen nicht nur Räume für junge Künstler und Kulturschaffende. Jedwede Infrastruktur zur professionellen Präsentation ist Mangelware in einer ansonsten reichen Stadt. Weder Staat noch Stadt oder Stiftungen stellen eine derartige Infrastruktur zur Verfügung. Selbst die Kunstakademie ASFA bietet ihren Absolventen nicht diese Möglichkeiten an. Und der einzigen Ausnahme, dem Projektraum der Akademie „Circuits and Currents“, droht aktuell das Aus, wenn sich nicht doch noch Fördermittel auftreiben lassen. Unter solchen Bedingungen sind die europäischen Kulturinstitute auch (scheinbar) ganz banal mit ihren Veranstaltungsräumen und ihrer Infrastruktur von enormer Bedeutung.

 

Dies alles ereignet sich vor dem Hintergrund manifester Krisen in Europa, deren Ende nicht abzusehen ist. Es bleibt fraglich, ob die Syriza-Regierung die in sie gesetzten Hoffnungen auch nur mittelfristig realisieren wird. Die griechische Gesellschaft ändert sich unter den Bedingungen der Krise – wie auch immer. Die Zukunft Europas wird auch in Griechenland verhandelt. Wenn es denn je einen Seinsgrund für das Goethe-Institut und die anderen europäischen Kulturinstitute gegeben hat, dann müssen sie Teil dieses Prozesses bleiben. Unsere wichtigste Aufgabe ist nach wie vor, die Impulse und die Dynamik der Kulturszene und der Zivilgesellschaft zu nutzen, um Diskussionsräume und Horizonte zu öffnen. Gerade jetzt und gerade in Europa geht es darum, Freiräume und Demokratie gegen autoritäre und schlimmere Tendenzen zu sichern.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2018


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