Olaf Zimmermann - 28. Oktober 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Der Fluch der Digitalisierung


In den 1980er Jahren habe ich, wie viele Programmierneulinge bis heute, als erste Aufgabe ein kleines Programm geschrieben, dass den Satz „Hello World!“ auf dem Computerbildschirm anzeigt. Das war mehr als eine Fingerübung, das war der Traum, eine weltweite Vernetzung über digitale Netzwerke zu organisieren. Jeder kann mit jedem schrankenlos in Kontakt treten.

 

Google geht erst zehn Jahre später, 1997, an den Start, auf YouTube muss man noch einmal knapp ein Jahrzehnt warten. Microsoft ist damals der Platzhirsch. Das neue Betriebssystem Windows setzt den Standard und macht Microsoft in kurzer Zeit zum ersten fast unumschränkten Herrscher über die digitale Welt. Schon damals hatten viele ein mulmiges Gefühl. Wird der Traum einer weltweiten freien Vernetzung von kommerziellen Unternehmen in Gefahr gebracht?

 

Ende der 1980er Jahre waren Compuserve und AOL die kommerziellen Türöffner zum World Wide Web. Ich hatte mich einem kleinen Mailboxanbieter „Kolbenfresser“ angeschlossen, um erste Gehversuche im Internet ohne die Benutzung der Dienste von amerikanischen Großunternehmen machen zu können. Spätestens Anfang der 2000er Jahre war mit der Gründung von LinkedIn und Facebook der Traum von einer nichtkommerziellen weltweiten Kommunikation endgültig ausgeträumt. Eine Nutzung des Internets ohne die Nutzung von Plattformen multinationaler Konzerne ist nicht mehr sinnvoll möglich.

 

Wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte beherrschen heute eine Handvoll Unternehmen die weltweite Kommunikation. Die Digitalisierung, die zumindest für einige die Chance auf freie Kommunikation beinhaltete, hat sich zu einem kommerziellen Fluch entwickelt.

 

Und im Kulturbereich, der vor drei Jahrzehnten ein Antreiber der digitalen Emanzipation war, wird heute fast infantil nach immer mehr Digitalisierung gerufen, ohne die Frage zu stellen, wem das World Wide Web gehört. Die Werke der Künstler, Musiker, Schriftsteller und anderen werden weltweit in den Netzen kommerziell von den Netzbetreibern genutzt, aber nur selten vergütet.

 

Karl Marx hat das Eigentum an Werkzeugen, Werkstoffen und Maschinen als „Produktionsmittel“ in den Händen weniger heftig kritisiert. Heute sind die Netzanbieter die Besitzer der wichtigsten „Produktionsmittel“ unserer Zeit. Aber anders als in der Zeit von Marx scheint dieser Umstand klaglos akzeptiert zu werden.

 

Denn wenn selbst der Kulturbereich nach immer mehr Digitalisierung ruft, ohne die Frage der Autonomie zu stellen, wird „Hello World!“ ein Traum bleiben.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2021.


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