Klaus-Dieter Lehmann - 30. März 2022 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Chinternet


Ein kulturelles Phänomen

China hat mit erstaunlicher Dynamik und einem breiten Veränderungsprozess in nur drei Jahrzehnten eine neue Lebenswirklichkeit geschaffen, vom vorindustriellen zum postindustriellen Zustand, vom rückständigen Entwicklungsland zur Weltmacht. Lange Zeit wurde die Entwicklung gestärkt durch ein ausgeprägtes Wettbewerbsdenken gegenüber dem Westen. Dabei eignete man sich die Elemente westlichen Denkens in einem selektiven Prozess an, von denen man sich eine erfolgreiche Erneuerung versprach. So sah man in der konsequenten Anwendung wissenschaftlicher und technischer Erkenntnisse für technologischen und gesellschaftlichen Fortschritt, der zielorientierten Kommerzialisierung und dem Erstarken eines einheitlichen Nationalismus Chancen für das Erreichen einer Wiedergeburt der chinesischen Nation. Das Vertrauen in die Wirkmächtigkeit dieser Vorgehensweise wurde ideologisch gefestigt durch die Unterordnung aller Lebensbereiche gegenüber Staat und Partei. Dabei findet der erzieherische Auftrag der Kultur quer durch die Gesellschaft Zustimmung.

 

Ohne einen breit akzeptierten Konsens zu diesem kompromisslosen Ansatz zur Modernisierung wäre die Realisierung nicht möglich gewesen. Modernität spielt auch in allen Bereichen der Kultur eine wesentliche Rolle.

 

Der radikale Ansatz zur Modernisierung ist nicht zuletzt der traumatischen Erfahrung geschuldet, die sich im 19. Jahrhundert aus dem überlegenen Auftreten des westlichen Imperialismus ergab und das feudale Erbe Chinas infrage stellte. Als Folge beschäftigte sich der gesellschaftliche und kulturelle Diskurs immer wieder mit der Frage des Überwindens der eigenen Schwäche und des Gewinnens einer neuen Stärke. Es kam zur Ablehnung der eigenen Kultur, zu tiefgreifenden Kampagnen gegen die Eliten, zur großen Proletarischen Kulturrevolution von Mao Zedong, zur Vernichtung von etwa 80 Prozent des materiellen kulturellen Erbes. Es begann eine geschichtslose Zeit mit einer der größten Binnenmigrationen, es entstanden riesige Städte mit einem Nebeneinander von Stilen, Formen und Entfremdungen, eine Umwidmung der bäuerlichen Gesellschaft in städtische Strukturen.

 

Dieses Schielen nach den jeweils erzielten Ergebnissen im Vergleich mit dem Westen, das Ringen um Anerkennung innerhalb der Weltgemeinschaft ist inzwischen wohl einem neuen Selbstbewusstsein gewichen. China hat es nicht mehr nötig, sich der Welt zu beweisen. Das zeigte sich aktuell bei der Durchführung der Winterolympiade 2022, bei der China seine technischen und organisatorischen Fähigkeiten, die Beherrschung der Pandemieauswirkungen und seine sportliche Entwicklung unter Beweis stellte. War die Olympiade im Sommer 2008 in Peking noch ganz auf eine eindrucksvolle Außenwirkung ausgerichtet, so galt die Ausrichtung dieses Mal dem Erfolg nach innen. Die junge chinesische Mittelklasse sollte erreicht werden, nicht mit Parteiparolen, sondern mit populären gesellschaftlichen Ereignissen.

 

Inzwischen ist in China eine neue Generation herangewachsen, die sich durch das positive Technologieklima der letzten Jahrzehnte in fast gläubiger Weise im und mit dem Internet eingerichtet hat. Das ganze Leben lässt sich über Apps organisieren und man spricht inzwischen von Chinternet. China beherrscht die maßgeblichen Technologien der Hardware, der Netzwerkstruktur und der Steuerung und Kontrolle. Weibo ist der größte chinesische Kurznachrichtendienst mit 340 Millionen Nutzern, Wechat vergleichbar WhatsApp, Alipay, das Online-Bezahlsystem mit mehr als 520 Millionen Nutzern, Kuaishou das Portal für Kurzvideos und Livestreaming, TikTok, das sich am schnellsten verbreitende Videoportal, mit täglich 150 Millionen Nutzern. Das Internet hat für die Gesellschaft eine revolutionäre Bedeutung, nochmals gesteigert durch Social Media. Influencer auf Weibo haben weit über 100 Millionen Follower. Sie sind geschäftlich erfolgreich.

 

Chinas inoffizielle Gegenwartskultur ist heute vor allem eine Internetkultur. Das gilt ganz besonders für den kulturellen Diskurs, Podcasts haben eine enorme Bedeutung. Nach wie vor gilt aber auch für die Internetkultur, sie ist ein Instrument der Politik, im Dienst von Partei und Staat, gedacht zur Stärkung von Chinas Softpower. Deshalb gibt es für den Anwendungsbereich strenge Kontrollen durch den Staat. Es wird ein gigantischer staatlicher Aufwand betrieben, um Eingriffe der Zensur und schnelles Reagieren zu ermöglichen. Zugleich werden aber alle Möglichkeiten genutzt, um seitens der Staatsmacht Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen. In Chinas sozialen Medien tauchen täglich neue Trends, Themen und Bewegungen auf, die ebenso schnell wieder verschwinden. Die Kräfte der Zensur regen die Kreativität genauso an, wie sie sie einschränken. Manche dieser Trends schaffen es aber auch, zu wahrgenommenen Online-Gemeinschaften zu werden, die gewollte Entwicklungen stärken. So gibt es in den sozialen Medien derzeit massive nationalistische Angriffe gegen Auslandskorrespondenten im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine oder Boykottaufrufe gegen westliche Modelabels im Zusammenhang mit der Baumwolle aus Xinjiang oder das Verdammen der Schriftstellerin Fang Fang mit ihrem Tagebuch von Wuhan über den Beginn von COVID-19. Es ist eine immer wieder neu austarierte Balance zwischen Duldung und Restriktion, ein eigener Kosmos, ein Wetteifer, der sich teilweise selbst überholt. Der Einfluss auf das menschliche Zusammenleben in China ist nicht zu unterschätzen. Und es ist noch nicht abzusehen, welche Entwicklung langfristig dadurch genommen wird und was es mit den Menschen macht. Das gilt insbesondere für die flächendeckend geplante Einführung eines digitalen Sozialkredit-Systems, bei dem je nach Verhalten Punkte hinzukommen oder abgezogen werden und so jedem Individuum eine spezifische Vertrauenswürdigkeit bescheinigt wird, die Privilegien oder Sanktionen bedingt.

 

Obwohl derzeit die Internetanwendung in China aufgrund des eigenen potenziellen digitalen Wirtschaftsraumes von rund 1,4 Milliarden Menschen, der gegenwärtigen Abschottung im Gegensatz zu der westlichen Internetauffassung und der starken Stellung der lokalen Szenen, zunächst stark chinesisch geprägt ist, ist zu erwarten, dass China das nicht als Sonderweg betrachtet, sondern seine Kenntnisse und Fähigkeiten in eine exportorientierte Erweiterung in Konkurrenz zur westlichen Welt ausbaut. Dann geht es nicht nur um technische Infrastruktur, sondern auch um Einfluss und Kontrolle.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/22.


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