Susanne Keuchel - 28. Oktober 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Texte zur Kulturpolitik

Bildungsideal Humboldt reloaded?


Im Zeichen der Nachhaltigkeit

Die fortschreitende Ökonomisierung im Zuge der Globalisierung hat unser Bildungssystem stark verändert. Gestaltungsoptionen der Nationalstaaten wurden deutlich reduziert zugunsten technokratischer Vorgaben, hier vor allem Gutachten und Testverfahren von Stiftungen, allen voran Bildungsstandards der OECD. Im Vordergrund steht die wirtschaftliche Verwertung von Bildung, die Schöpfung des „Humankapitals“ für den Arbeitsmarkt durch Entrümpelung der Lehrpläne hin zu berufs- und handlungsorientiertem Wissen und Kompetenzen.

 

Dabei stellen sich zunehmend kritische Fragen: Wenn bestehende Berufsfelder angesichts des rasanten technologischen und gesellschaftlichen Wandels morgen möglicherweise gar nicht mehr existieren, da sie von neuen Techniken wie künstlicher Intelligenz (KI) übernommen werden oder sich neue Aufgabenfelder ergeben, wie sinnvoll ist dann die wachsende Berufsorientierung von Schulen und Hochschulen? Wie sinnvoll sind Kompetenzmodelle, die vermitteln, Aufgaben mit einem bestehenden Rüstzeug bewältigen zu können, angesichts unbekannter künftiger Menschheitsaufgaben? Bekommt hier nicht das humboldtsche Bildungsideal eine neue Aktualität? Nicht zielorientiert zu lernen, sondern sich in einem permanenten Bildungsprozess der Welt zu nähern, in Form einer ganzheitlichen Ausbildung in den Künsten und Wissenschaften?

 

Neben dem „Output“ ist innerhalb ökonomischer Betrachtungen Effizienz im Bildungswesen gefragt. Wettbewerbsprinzipien regulieren daher aktuell in Analogie zum Wirtschaftsmarkt Zugänge zu Bildung und Forschung: Jeder, vom Schüler über den Studierenden bis hin zum Professor, kann im Wettbewerb um bestmögliche Ausbildung oder Fördermittel konkurrieren und muss sich im Ausgleich nach standardisierten Leistungskriterien messen lassen. Dieser Wettbewerb hat jedoch Bildungsungleichheiten in Abhängigkeit vom sozialen Status des Elternhauses deutlich verschärft. Sollten wir Bildung wirklich als endliche Ressource betrachten, auf die im Wettbewerb nur die Besten vollständigen Zugriff erhalten? Oder sollten nicht allen Kindern, unabhängig ihres Elternhauses, die gleichen Bildungszugänge ermöglicht werden? Das ist vielleicht nicht effizient, aber gerecht und nachhaltig!

 

Denn den Status quo des Exportweltmeisters in Zeiten der Nachhaltigkeit beizubehalten, wird herausfordernd. Hier bedarf es angesichts fehlender naturgegebener Ressourcen vor allem geistiger oder technischer Exporte, die andere Länder nicht produzieren können, also innovative Ideen. Und wie im Leistungssport zeigt sich auch beim Denksport, dass eine gute und solide Breitensportbasis am ehesten zu künftigen Weltmeistern führt, statt von Anfang an auf nur einige wenige zu setzen.

 

Und wenn wir nicht wissen, was alles noch zu entdecken ist auf dem Weg zur Transformation zu einer nachhaltigen und generationengerechten Gesellschaft, ist es möglicherweise sinnvoller, sich nicht zielorientiert, sondern prozessorientiert Wissen anzueignen. Denn wenn Forschungsprojektanträge wirklich so geschrieben werden könnten, dass das zu entdeckende Ziel, die benötigten personellen und finanziellen Zeitressourcen und die Wege, wie das Forschungsziel erreicht werden kann, genau beschrieben werden könnten, dann bräuchten wir doch gar nicht mehr zu forschen? Ob Albert Einstein unter heutigen Forschungsbedingungen die Relativitätstheorie entwickelt hätte? Ist Forschung wie Bildung nicht vielmehr ein permanenter Trial-and-Error-Prozess, der oftmals ganz andere Potenziale eröffnet als ursprünglich geplant? Vielleicht sind Alexander von Humboldts Ideen nie so aktuell gewesen wie heute, sich als Weltbürger mit den großen Menschheitsfragen auseinanderzusetzen, mit Frieden, Gerechtigkeit oder einer anderen Beziehung zur Natur, oder wie Alexander von Humboldt so treffend formulierte: „Jedes Naturgesetz, das sich dem Beobachter offenbart, auf ein höheres, noch unerkanntes schließen (lässt).“

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2021.


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