Andreas Rauscher - 2. Juli 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Science-Fiction

Space Invaders und Cyberpunks


Science-Fiction im Videospiel

Seit den Anfangstagen der Videospiele zählt das Science-Fiction-Genre zu deren ausdauerndsten Inspirationsquellen. Bereits in dem 1962 am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston entstandenen „Spacewar!“, einem der ersten Videospiele überhaupt, duellieren sich die beiden Spielenden mit Raumschiffen. Literarische Weltraumabenteuer beeinflussten maßgeblich das Szenario. In den späten 1970er Jahren eroberten Titel wie „Space Invaders“ (1978) und „Asteroids“ (1979) die Spielhallen. Heute bilden Science-Fiction-Spiele wie die Endzeit-Rollenspiele „Borderlands“ (seit 2009) und „Fallout“ (seit 1997) und die postapokalyptische K.I.-Parabel „Horizon Zero Dawn“ (2017) einen festen Bestandteil der Spielkultur. Einige Subgenres scheinen mit Titeln wie „Cyberpunk 2077“ (2020) im Bereich der Games inzwischen sogar präsenter als in ihren filmischen Varianten zu sein.

 

An den Austauschbeziehungen zwischen Science-Fiction und Videospielen lassen sich soziokulturelle Akzentverschiebungen in der Relevanz einzelner Motive nachvollziehen. Das nukleare Wettrüsten der 1980er Jahre findet in dem beklemmenden Arcade-Spiel „Missile Command“ (1980) Ausdruck, das auf kurz oder lang zwangsläufig mit der atomaren Apokalypse endet. Die symbolische Bedeutung der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl wird in dem 2007 erschienenen Rollenspiel „STALKER – In the Shadow of Chernobyl“ thematisiert. Die filmische Vorlage Andrei Tarkowskis und die literarischen Einflüsse der Brüder Strugatzki erweitern das Spiel um den detailliert nachgestalteten, ikonischen Schauplatz der Sperrzone um den geschmolzenen Reaktor. Dass die Spielwelt des Online-Multiplayer-Spiels „EVE Online“ von einem Ökonomen, der eigens vom Entwickler CCP Games eingestellt worden ist, betreut wird, verdeutlicht die Eigendynamik virtueller Wirtschaftssysteme, die sich unmittelbar mit den gegenwärtigen Debatten um Kryptowährungen ergänzt.

 

Aus dem Themen-Repertoire der Science-Fiction bekannte Bilder und audiovisuelle Arrangements schreiben sich in den spielerischen Fiktionen und Simulationen der Spiele fort. Die Spielautomaten der 1970er und 1980er Jahre greifen häufig auf vertraute Standardsituationen wie die Konfrontation mit angreifenden Raumschiffen zurück. Der reduzierte Hintergrund des Weltalls erweist sich in Spielen wie „Defender“ (1981) als pragmatische Lösung, um die technischen Beschränkungen der Grafik zu überspielen.

 

Mit besseren grafischen Möglichkeiten ergibt sich im Lauf der 1990er Jahre eine verstärkte Annäherung an die filmische Mise-en-Scène. Die Reihe „Wing Commander“ (seit 1990) verknüpft die strategischen Flugmissionen des Spiels mit aufwendigen, von einer CD-ROM eingespielten Filmsequenzen, in der bekannte Schauspielerinnen und Schauspieler wie Mark Hamill und Malcolm McDowell auftreten. Mit den gegenwärtigen Möglichkeiten der Game-Engines ergänzen sich Echtzeit-Animation und Spielhandlung schließlich zu neuen hybriden Formen.

 

Im Bereich des Cyberpunk wie den Spielen der „Watch Dogs“-Reihe (2014-2020) ergänzen sich die Hackerangriffe der Spielhandlung unmittelbar mit den Funktionsweisen der realen Hardware.

 

Im Unterschied zur Science-Fiction in Literatur und Film beschränkt sich die aktive Beteiligung der Rezipientinnen und Rezipienten im Spiel nicht nur auf die kognitive Ebene der Beobachtung oder die emotionale Anteilnahme am Geschehen. Die Spielenden können die Handlung selbst beeinflussen. Die Vorstellung, in die Welt einer Fiktion einzutreten, bildet einen festen Topos der Kunst- und Kulturgeschichte. In Form des Holodecks aus der Serie „Star Trek – The Next Generation“ (1987-1994) entwickelte sich diese Idee selbst zu einer Denkfigur der Medientheorie, der die Kulturwissenschaftlerin Janet Murray 1997 eine Studie mit dem programmatischen Titel „Hamlet on the Holodeck“ gewidmet hat.

 

Die Zukunftsvisionen der Science-Fiction eignen sich gleich in mehrfacher Hinsicht besonders gut für spielerische Interaktionen. Videospiele können unterschiedlichste Sinne ansprechen, vom unmittelbaren Reaktionsvermögen über die Adressierung verschiedener Affekte bis hin zur fantasievollen Ausgestaltung der eigenen Rollenfigur. Die Arcade-Automatenspiele der 1970er und 1980er Jahre ergänzen sich effektvoll mit dem nicht narrativen Kino der Attraktionen, das in den Filmen von Steven Spielberg und George Lucas mit opulenten Schauwerten und aufwendigen Actionszenen aufwartet. Bezeichnenderweise erschien 1982 das erste „Star Wars“-Arcade-Spiel auch in einer Variante, in der die Schlacht gegen den imperialen Todesstern im Nachbau eines X-Wing-Fighter-Cockpits absolviert werden konnte.

Der Unterschied zwischen den spielerischen Herausforderungen der Arcade-Games und der Handlung filmischer Vorbilder lässt sich prägnant am Spiel zum Kultfilm „Tron“ von 1982 nachvollziehen. Während auf der Leinwand die Heldinnen und Helden nach einer spektakulären Sequenz der Light-Cycle-Rennbahn entkommen, drehen die Spielenden des gleichnamigen Arcade-Spiels immer weitere Kreise mit ihren futuristischen Motorrädern.

 

Erst mit der Speicherfunktion der für den Heimgebrauch gedachten Computer bekommen die Spieledesignerinnen und -designer zunehmend die Möglichkeit, ganze Handlungsbögen auszugestalten. Das Science-Fiction-Setting beschränkt sich seit den späten 1980er Jahren nicht mehr auf eine überwiegend dekorative Funktion, wie es noch bei den meisten Arcade-Spielautomaten der Fall war. Adventure-Spiele wie „Planetfall“ und die Reihe „Space Quest“ entwerfen ambitionierte Storylines mit einprägsamen Charakteren. Die Schriftsteller Douglas Adams und Ray Bradbury beteiligten sich in den 1980er Jahren an Game-Adaptionen ihrer bekannten Romane „Hitchhiker’s Guide to the Galaxy“ und „Fahrenheit 451“. Die seit den 1990er Jahren kontinuierlich verbesserte Integration grafischer und audiovisueller Elemente ermöglicht 1995 mit „The Dig“ die Adaption eines noch nicht verfilmten Drehbuchs von Steven Spielberg. 1998 entsteht, 20 Jahre vor dem filmischen Sequel, eine eigenständige Fortsetzung des Films „Blade Runner“ (1982). Ob sich am Ende die Hauptfigur wie im dystopischen Klassiker von Ridley Scott selbst als künstlicher Replikant oder als Mensch erweist, hängt von den Entscheidungen ab, die die Spielenden im Verlauf der Handlung treffen.

 

Einfallsreiche Genrevarianten wie der Kampf gegen eine außer Kontrolle geratene K.I. in „System Shock“ (1994), die biomechanische Manipulation des eigenen Körpers in der „Deus Ex“-Reihe (seit 2000) oder die an Filmklassiker wie „Metropolis“ (1927) anknüpfenden Stadtvisionen in „Beneath a Steel Sky“ (1994) verleihen den Science-Fiction-Spielen eine zunehmende Eigenständigkeit.

 

Die einprägsamsten Videospiele nutzen pointiert die medienspezifischen Möglichkeiten, um bekannten Motiven in der Spielerfahrung eine neue Qualität abzugewinnen. Die „Portal“-Reihe (seit 2007) setzt mit dem hochgradig neurotischen Computersystem GlaDOS die Tradition von HAL aus „2001 – A Space Odyssey“ (1968) fort. Die Anweisungen der launischen K.I. wirken sich fatal auf den Spielverlauf aus, wenn die Spielenden diesen blind folgen. Es gehört zu den Besonderheiten des Spiels, dass die als Avatar gesteuerte Heldin gegen die Befehle der K.I. und dadurch auch gegen das vom Spiel vorgegebene Gameplay verstoßen muss, wenn sie überleben will. Ähnliche Elemente eines unzuverlässigen Spielverlaufs finden sich auch in „Bioshock“ (2007). Die Geschichte der als utopisches Experiment gescheiterten Unterwasserstadt Rapture setzt sich mit der problematischen Philosophie der Autorin Ayn Rand auseinander. Die Reflexion ihrer rechtslastigen Ideologie wird sowohl auf der Ebene der Handlung als auch in der Umsetzung der Spielsteuerung realisiert. Ebenso wie die komplexen Rollenspielwelten der „Mass Effect“-Reihe, in der Spielende selbst über Geschlecht und sexuelle Orientierung des Avatars entscheiden können, verdeutlichen diese Spiele, dass sie den transmedialen Science-Fiction-Diskurs nicht einfach nur adaptieren. Vielmehr gestalten sie ihn als eigenständige und kreative Beiträge zum Genre aktiv unter der Beteiligung der Spielenden mit.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2021.


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