Georg Seeßlen - 2. Juli 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Science-Fiction

Projizierte Zukunft


Der Science-Fiction-Film

Science-Fiction ist unsere gemeinsame Vorstellung von Zukunft, in der sich, im besten Fall, Fantasie, wissenschaftliche Logik und soziales Bewusstsein miteinander verbinden. Welche Zukunft wird es sein? Was dürfen wir hoffen? Was müssen wir fürchten? Science-Fiction-Filme sind eine Form der Antwort auf diese Fragen. Manchmal. Manchmal sind es aber auch höchst aktuelle Albträume. Und manchmal auch nur Quatsch. Susan Sontag hat in Science-Fiction-Filmen vor allem eine „Katastrophenfantasie“ am Werk gesehen. Was es selten gibt, das sind durchweg positive oder optimistische Zukunftserfindungen. Es ist oft eher eine Flucht aus der Zukunft, mehr Angst als Hoffnung, mehr Zerstörung als Utopie. Der allererste Science-Fiction-Film, „Le Voyage dans la Lune“ von Georges Méliès aus dem Jahr 1902, führt zuerst einmal zu einer für alle Seiten ausgesprochen schmerzhaften Begegnung. Für den Mondmann geht der technische Fortschritt der Erdenmenschen buchstäblich ins Auge. Und was dann folgt, ist auch nicht viel erfreulicher.

 

Science-Fiction ist eine technisch-soziologische Begründung für fantastische Ereignisse, die im Gegensatz zu Horror (dämonisch-sadistische Impulse) und Fantasy (Magie und Mythos) als Basis ein „Things to Come“ hat, also eine Hochrechnung gegenwärtiger Technologie plus einiger Quantensprünge wie Lichtgeschwindigkeit, Zeitreise, „Beamen“ etc. So kann man Science-Fiction unter einem Aspekt als fiktive Futurologie ansehen. Ein Vergnügen bieten dann tatsächlich eingetroffene Voraussagen – der Countdown in Fritz Langs „Die Frau im Mond“, der 3D-Drucker als bescheidene Realisierung des „Beamens“ in „Star Trek“ – oder sehr naive Bilder wie ein Mond, auf dem die Menschen atmen können, ein Planet, auf dem die Bewohner irdische TV-Serien nachspielen – um die beiden Beispiele wieder aufzugreifen, und schließlich Anachronismen wie z. B. die Computer und Schalttechniken vieler Science-Fiction-Filme, in denen es längst interstellare Raumfahrt gibt, wirken heute vorsintflutlich, um von den legendären Bügeleisen-Schaltern im Raumschiff Orion zu schweigen. Der Science-Fiction-Film ist immer eine Herausforderung für die Kunst des „Make-Believe“. Daher hängt er lange Zeit der literarischen Entwicklung des Genres hinterher, denn was sich ein Autor oder eine Autorin ausdenkt, muss ja erst einmal als Bild verwirklicht werden können. Andererseits gibt es aber auch den „sense of wonder“, die Bereitschaft, sich faszinieren und in eine Wunderwelt entführen zu lassen, die den wahren Science-Fiction-Fan gnädig stimmt gegenüber technischen oder ästhetischen Unzulänglichkeiten. Darin steckt weniger das Futurologische und Wissenschaftliche als das Fantastische: Wir stellen uns nicht nur die tollsten Geräte und Architekturen, sondern auch die seltsamsten parallelen Kulturen und Lebensweisen vor.

 

In der Frühzeit des Genres wandte man sich mit Serials wie „Buck Rogers“ oder „Flash Gordon“ vorwiegend an ein kindliches Publikum. Dabei zeigte Fritz Lang schon 1927 mit „Metropolis“, was sowohl ästhetisch als auch inhaltlich im Genre steckt; die gewaltige Produktion allerdings war zu seiner Zeit gar kein Publikumserfolg. Auch in der Sowjetunion entstand 1924 mit „Aelita – Der Flug zum Mars“ von Jakow Protasanow eine Zukunftsvision, die die Entwicklung des Genres wie der Filmtechnik auf dem neuesten Stand präsentierte. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Genre erst einmal mehr zu einer Abteilung des eher sensationellen Unterhaltungskinos mit eher indirekten Beziehungen zur Politik. Viele Filme aus den 1950er und 1960er Jahren wie „Krieg der Welten“ oder „Invasion der Körperfresser“ waren als direkte Widerspiegelung der amerikanischen Invasions- und Unterwanderungsängste zu verstehen, während die japanische Serie um das Monster Godzilla seit 1954 wie eine Gestalt gewordene Erinnerung an das Trauma der Atombomben-Abwürfe wirkte. 1968 entstand der Film, der dem Genre eine ganz andere, erwachsene Richtung gab, Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“. Seitdem erscheint das Genre dreigeteilt: Zum einen eine kindlich-märchenhafte Form, die mit „Star Wars“ ihre Apotheose fand, zum anderen „erwachsene“ Science-Fiction, die wie Nicolas Roegs „The Man Who Fell To Earth“ mit David Bowie in der Rolle des gestrandeten Alien oder der wissenschaftliche Thriller „Andromeda“ eine cineastische Entsprechung von anspruchsvoller spekulativer Literatur bot. Doch der Mainstream des Genres konzentrierte sich weiter auf die von Susan Sontag diagnostizierte Katastrophenfantasie: Aggressive Invasoren aus dem All, Viren-Epidemien, die die Menschheit ausrotten bis auf den „Last Man On Earth“, verrückte Wissenschaftler, die nie etwas anderes als die Weltherrschaft erstreben, Roboter, die den von Isaac Asimov entwickelten „Gesetzen der Robotik“ partout nicht gehorchen wollen, Raumschlachten zwischen intergalaktischen Heerscharen, drohende Umweltkatastrophen oder einfach Weltuntergang. Steven Spielberg setzte mit zwei Filmen eine friedvollere Vision dagegen: „Unheimliche Begegnung der Dritten Art“ (1977) und natürlich „E.T.“ (1982), der liebenswerteste Alien von allen.

Natürlich lässt sich die Geschichte des Science-Fiction-Films auch als Geschichte der Special Effects schreiben. Die erste Phase gilt der Welt der Modell-Gadgets: Raketen, Planeten, Aliens als analoge Nachschöpfungen, die wenig Realismus benötigten, weil die Attraktionen ohnehin vor allem aus der grafischen Kunst und dem Comic kamen. Das Genre experimentierte mit neuen Verfahren, z. B. mit dem Einsatz von Farbfiltern. Insbesondere bei der Schilderung wissenschaftlicher Einrichtungen („Andromeda – Tödlicher Staub aus dem All“) und wirklicher Raketentechnik gab es seit Fritz Langs „Frau im Mond“ oft eine Zusammenarbeit von Filmleuten mit Wissenschaftlern und Technikern. Auf der anderen Seite wurden reale Bauten als perfekte Kulissen für Zukunftsvisionen entdeckt. Jean-Luc Godards Science-Fiction-Film „Alphaville“ (1965) wirkt gerade deswegen so beklemmend, weil er in den realen Architekturen der Neubauviertel von Paris gedreht wurde. Und in Norman Jewisons „Rollerball“ erscheint das Münchner BMW-Museum durchaus glaubwürdig als Spielstätte für einen grausamen Zukunftssport. Den größten Schub erlebte die Ästhetik des Genres natürlich mit der Entwicklung der digitalen Bildverarbeitung. Jeder neue Film war dann Teil einer Weiterentwicklung entsprechender Software, die dann wieder für andere Filme verwendet werden konnte. Der gegenwärtige Stand der Technik lässt sich wohl auf den Nenner bringen: Alles ist möglich – sofern die entsprechenden digitalen Ressourcen zu bezahlen sind. Doch dies hat auch zu einer gewissen Beliebigkeit geführt, die vor allem in den Materialschlachten von Superhelden-Filmen leicht ermüdet. Heute geht es für einen „erwachsenen“ Science-Fiction-Film eher darum, die digitalen Möglichkeiten gezielt, aber nicht exzessiv einzusetzen, um den größtmöglichen Grad an „Wirklichkeit“ zu erzeugen.

 

Das Genre hat sich nun weiter aufgefächert: Es gibt die Endlos-Geschichten um „Star Wars“ und „Star Trek“, die nicht weniger endlosen Superhelden-Fantasien und zu alledem Trash-Varianten und Parodien. Es gibt die Science-Fiction-Noir, die ein düsteres Bild einer Zukunft malt, die ihre besten Tage schon hinter sich hat und in der, wie in „Alien“ oder „Blade Runner“, selbst die Zukunftstechnologie anfällig und kaputt wirkt. Es gibt ein Spiel mit Identität und Wahn, wie in Duncan Jones’ „Moon“, und mit der Auseinandersetzung mit der maschinellen Parallelschöpfung und der künstlichen Intelligenz drängt ein neues Thema in den Vordergrund: Von „A.I.“ über „Her“ bis „Ich bin dein Mensch“ wird hier die Frage nach dem Wesen des Mensch-Seins gestellt. Ein anderes hochaktuelles Motiv ist die Schwierigkeit, Simulation und Wirklichkeit zu unterscheiden. Das reicht von Rainer Werner Fassbinders „Welt am Draht“ über die „Matrix“-Filme bis zu Serien wie „Wayward Pines“, wo die Menschen buchstäblich unter einer Glocke der „Reality“ leben – ähnlich wie einst der Held der „Truman Show“, der irgendwann bemerkt, dass er kein wirkliches Leben lebt, sondern nur eine Rolle in einer Soap Opera spielt. Mehrfach wird auch mit dem Gedanken gespielt, Menschen könnten sich in Computerspielen verirren wie in „Nirvana“, „Tron“ oder „Ready Player One“. Das Fantastische, so lautet die Formel des traditionellen Science-Fiction-Films, bricht in die reale Welt des Menschen ein und stellt ihn vor neue Herausforderungen, nicht nur technischer, sondern auch moralischer Art. Der neue Science-Fiction-Film geht davon aus, dass unser gesellschaftliches und individuelles Leben längst schon aus Fiktionen und Simulationen besteht. Doch es gibt Hoffnung, wie etwa in „12 Monkeys“, aus dem Kokon der Simulationen oder aus einem buchstäblichen Gefängnis auszubrechen und zu einer Wirklichkeit zurückzukehren, selbst wenn sie nur noch Reste von Natur und Leben enthält. Als hätten wir nur die Wahl zwischen einem ewig währenden intergalaktischen Krieg, dem Leben in einer Simulations- und Technik-Welt, in der das wirkliche Leben eigentlich überflüssig ist, oder aber einem Neuanfang in der post-apokalyptischen Welt, in der wie in „The Road“ nur die Frage des Jungen an den Vater bleibt: Sind wir noch die Guten?

 

In der Geschichte des Science-Fiction-Films kamen sich Wirklichkeit und Fantasie immer wieder einmal näher als beabsichtigt. Was ein Computer heute kann, konnte sich bis in die 1980er Jahre kein Drehbuchautor vorstellen. Aber zugleich wurden die ganz großen Hoffnungen auf die Eroberung des Weltraums, die fast selbstverständliche Begegnung mit anderen Lebensformen „dort oben“ oder die Lösung aller politischen und ökologischen Probleme bitter enttäuscht. Nicht mehr vom großen Aufbruch handeln die erwachsenen Science-Fiction-Filme unserer Tage, sondern von den großen Illusionen. Und die Katastrophen kommen nicht mehr von außen. Sie finden in den Menschen und ihren Gesellschaften selbst statt.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2021.


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