Sven Scherz-Schade - 25. April 2016 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Landeskulturpolitik

Niedersachsen: Kultur für Flächenland und Detail


Niedersachsen und seine Kulturpolitik für die nächsten Jahre

Niedersachsen

  • Landeshauptstadt: Hannover
  • Gründung: 1. November 1946
  • Einwohner: 7,86 Mio.
  • Fläche: 47.614,07 km²
  • Bevölkerungsdichte: 165 Einwohner pro km²
  • Regierungschef: Stephan Weil (SPD)
  • Regierende Parteien: SPD und Bündnis 90/Die Grünen
  • Nächste Wahl: Winter 2018
  • Ministerin für Kultur und Wissenschaft: Gabriele Heinen-Klajić (Bündnis90/Die Grünen)
  • Öffentliche Ausgaben für Kultur:  543,4 Mio. Euro/Jahr
  • Kulturausgaben je Einwohner: 69,89 Euro/Jahr
  • Kommunalisierungsgrad: 54,6%

Wenn’s nur mehr Geld gäbe! Die Niedersachsen sind nicht die Reichsten, man ist Empfängerland. Wie überall leidet auch hier die Kulturpolitik an der Schuldenbremse. Das erschwert es, offen heraus über Zukunftswünsche zu sprechen. Im Gegenteil, bevor Volker Bajus, MdL und kulturpolitischer Sprecher der Faktion B90/Die Grünen, die Herausforderungen der nächsten Jahre benennt, wirft er lieber einen kurzen Blick in die Vergangenheit: „Wir haben es noch nicht ganz geschafft, den Abbau in allen Kulturbereichen unserer Vorgängerregierung wieder auszugleichen.“ Bis 2013 regierte in Hannover schwarz-gelb, dann kam rot-grün. Übernächstes Jahr wird in Niedersachsen wieder gewählt und für die zukünftige Kulturpolitik nennt Bajus dann durchaus Ansprüche: „Auch im Kulturbereich wünschen wir uns ‚Gute Arbeit‘, also zum einen anständig bezahlte Arbeit, die zum anderen mit Sozialversicherungen verlässlich abgesichert ist. Ebenso ist uns die kulturelle Teilhabe wichtig.“

 

Mit den genannten Zielen liegt Volker Bajus voll auf Linie mit grünen, aber auch sozialdemokratischen Idealen. Sie in die Realität zu tragen, wird aber auch zukünftig schwierig, denn mit höheren Budgets für die Kultur ist nicht zu rechnen. Und umverteilen lässt sich nur wenig. Denn in Niedersachsen ist mit etwa 90 Prozent der größte Teil des Kulturetats festgelegt durch die großen Kulturinstitutionen des Landes wie die drei großen Staatstheater oder die Landesmuseen und Landesbibliotheken. Bajus: „Für die Kulturpolitik würde ich mir einfach mehr Geld wünschen. Weil Spielräume durch Umschichtung zu erreichen, das geht nicht!“

 

Man kennt diesen Zustand aus dem Rest der Republik. Da macht Niedersachsen keine Ausnahme. Und auch die grüne kulturpolitische Position ist aus anderen Bundesländern mit grüner Regierungsbeteiligung bekannt. Noch vor ein, zwei Dekaden war es innerhalb der Grünen – damals noch wörtlich als „alternative“ Partei anerkannt – gewissermaßen Konsens, dass man zukünftig stärker die freie, unabhängige Kulturszene fördern müsse. Wenn nötig dürfe dieses neue Engagement auch zulasten der fest etablierten, in mächtigen Institutionen „erstarrten“ Kultur gehen. Dieses – nicht zuletzt vom Neid motivierte – Verständnis von „Umverteilung“ hat sich in der grünen Kulturpolitik jedoch nicht durchgesetzt. Heute weiß man auch dort, dass sich vermeintliche Umverteilung in der Realpolitik zerstörerisch auf die Kultur insgesamt auswirken würde. Und dennoch ist man sich bei den Grünen dieser ungleichen Gewichtung der Kulturförderung sehr bewusst.

 

Volker Bajus ist Landtagsabgeordneter, zudem ist er seit vielen Jahren Mitglied des Stadtrates in Osnabrück. In „seiner“ Kommune mit rund 160.000 Einwohnern, sagt er, würden ganz ähnliche Verhältnisse herrschen. „Weit über 90 Prozent der Kulturgelder nehmen hier Stadttheater, Museen, also die klassischen Institutionen, ein“, sagt Volker Bajus, was in seiner ungleichen Gewichtung wiederum eine ganz andere problematische Gefahr offenlegt: Niedersachsen hat Kommunen, die unter Haushaltssicherung stehen. Deren Situation ist prekär. „Kultur steht als freiwillige Aufgabe schnell auf den Sparzetteln der Haushälter“, warnt Volker Bajus.

 

Auch in der momentanen Opposition Niedersachsens ist Jörg Hillmer vom Arbeitskreis Kultur der CDU-Fraktion mit der ungleichen Gewichtung der Kulturförderung äußerst unzufrieden. Für die neueren Kultureinrichtungen, wie etwa im Bereich Soziokultur, seien immer nur kleinere Beträge vorhanden, was angesichts der neuen Herausforderungen der Breitenkultur schlecht und unpassend sei. „Das hat vor allem etwas mit dem demographischen Wandel zu tun“, sagt Jörg Hillmer: „Niedersachsen ist ein Flächenland. Wo es früher ehrenamtliche Kulturträger gab, wie beispielsweise bei Chören oder Musikvereinen, sind heute Abbrüche zu verzeichnen. Gleichzeitig entsteht aber Neues. Da muss die Förderung der Breitenkultur mitwachsen!“


Tatsächlich ist diese Umorientierung, die in der Kulturpolitik stattfinden muss, eine besondere Herausforderung für Niedersachsen, wobei hier nicht nur der soziale und demographische Wandel greift. „Das hat auch was mit neuen Geschmäckern zu tun“, sagt Hillmer und nennt als Beispiel die zahlreichen kleineren Museen Niedersachsens, die gegenwärtig ehrenamtlich betrieben werden. „Das wird schwierig, wie diese Museen in Zukunft alle erhalten bleiben sollen. Gleichzeitig entsteht ja auch Neues.“
Vor allem der Osten Niedersachsens leidet etwa in der Region Harz unter Abwanderung. Umgekehrt gibt es Regionen, die wirtschaftlich stärker prosperieren wie im Westen des Landes. Zudem ziehen immer mehr Menschen in die Städte. „Da spielt Kultur als ‚Infrastruktur des Glücks‘ für die Lebensqualität eine entscheidende Rolle“, sagt Volker Bajus. Will die Kulturpolitik also die Leute in den ländlichen Regionen halten, muss sie dafür sorgen, dass dort weiterhin wenigstens ein minimales Angebot anzutreffen ist. Dem stimmt auch Jörg Hillmer zu, kritisiert aber die weiterhin offene Frage der Finanzierung, womit man wieder bei der ungleichen Geldverteilung von 90 zu 10 angelangt wäre. Den Großen etwas wegnehmen, das will auch Niedersachsens CDU nicht. „Man sollte aber folgendes im Auge behalten“, so Hillmer: „Im Moment sind die Haushalte gut gefüllt, die Steuereinnahmen sind hoch. Wie aber kann die Kulturpolitik in Zukunft reagieren, wenn die Einnahmen eines Tages wieder zurückgehen?“ Hillmer sieht die kulturpolitische Flexibilität in Gefahr. „Die rot-grüne Landesregierung hat unlängst längerfristige Vereinbarungen, Verpflichtungen und Verträge mit den Staatstheatern gemacht. Damit sind 90 Prozent in Beton gegossen. Wenn man irgendwann kürzen muss, bleibt nur noch die freie Spitze von 10 Prozent übrig, die dann immer noch kleiner wird! In der freien Kulturförderung wird es damit eng werden.“

 

Wenn die Landesregierung solche Verträge abschließt, müssen die Vereinbarungen nicht unbedingt vorab den Landtag passieren. Es sei denn, dass mit solchen Verträgen Verpflichtungsermächtigungen für spätere Haushaltsjahre einhergehen, was bei den Staatstheatern in Niedersachsen der Fall war. Die Vereinbarungen wurden parlamentarisch mehrheitlich bestätigt und wurden vordergründig – verständlicherweise – als kulturpolitischer Erfolg gefeiert. „Für diejenigen, die dabei längerfristige Planungssicherheit bekommen, ist das natürlich schön“, sagt Jörg Hillmer. „Aber ich glaube nicht, dass man im Ministerium so naiv ist, zu glauben, dass die Steuereinnahmen immer weiter wachsen werden.“ Die Sorge vor der relativ schlechten Flexibilität lässt sich auf das Ministerium für Wissenschaft und Kultur insgesamt übertragen, denn die – mit 2,5 Milliarden Euro wesentlich höheren – Etats für die Wissenschaft sind ebenfalls vertraglich gebunden und damit extrem starr den Universitäten, Hochschulen, kurzum: den Institutionen zugewiesen. Wenn also in etwaigen schlechten Jahren das Ministerium streichen muss, wird beim Kulturetat (rund 500 Millionen Euro) die freie Kulturförderung besonders ins Visier geraten. „Hier lässt sich mit relativ wenig Geld viel erreichen“, sagt Hillmer. Innerhalb von erdachten, pessimistischen Zukunftsszenarien weiß man nun aber gar nicht, ob das gut oder schlecht für die freie Szene sein wird… Wenn sie mit wenig auskommt, tut es nicht weh und man darf kürzen?

 

Missverständnisse bzw. unterschiedliche Auffassungen gab es über das in der Vergangenheit angestoßene „Kulturentwicklungskonzept Niedersachsen“. Dabei ging es vereinfacht gesagt um eine neue, aktive Kulturpolitik, die sich dem Diskurs aller Beteiligten stellt, die den Dialog sucht mit Kulturszene, Kulturschaffenden und anderen Akteuren. Tatsächlich lief da in den letzten Jahren bereits eine Menge. So genannte regionale Kulturforen wurden abgehalten, es fanden Konsultationen mit mehr als 150 Multiplikatoren aus dem Kulturbereich statt. Ergebnisse und Anregungen daraus sollten unter anderem in die Zielvereinbarungen mit Landschaftsverbänden und Kulturfachverbänden eingehen. Beim Kulturentwicklungsprozess ging es auch um eine wesentliche Bestandsaufnahme, inwieweit kulturelle Teilhabe – um ein Beispielspiel zu nennen – bei Kindern aus bildungsfernen Schichten ermöglicht und gefördert werden kann. Heute würde sich hier insbesondere die Frage nach der Teilhabe für Geflüchtete stellen und eine Bestandsaufnahme, wie Kultur die Integration ermöglichen und fördern kann. „Wir sehen das Kulturentwicklungskonzept als einen Prozess, in dem man zusammenkommt und gemeinsam neue Perspektiven entwickelt“, sagt Volker Bajus: „Es soll kein fest gefahrener Plan sein, der dann umzusetzen ist.“

 

Das hatte man bei der CDU-Fraktion anders verstanden. Um den zukünftigen kulturpolitischen Herausforderungen Niedersachsens klarer ins Auge sehen zu können, hätte sie sich schon gern eine Art Abschlussbericht gewünscht. „Das haben wir 2015 in einer Anfrage angemahnt“, sagt Jörg Hillmer: „Die Ministerin hatte darauf geantwortet, dass der laufende Prozess das Kulturentwicklungskonzept sei. Wir hatten nachgehakt, wann es eine Vorlage gebe, da hieß es, das werde nicht passieren…“ Was für ein Missverständnis! Das Kulturentwicklungskonzept nimmt für sich in Anspruch, „beteiligungsorientiert“ zu sein. Dabei hat es die Kulturpolitik im Landtag bzw. die Opposition gegenwärtig irgendwie nicht voll integriert!?

 

Der Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/16.


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