Peter Grabowski - 29. August 2016 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Landeskulturpolitik

Hessen: Deutschlands Mitte ist ganz stark am Rand


Landeskulturpolitik in Hessen

Hessen

  • Landeshauptstadt: Wiesbaden
  • Gründung: 19. September 1945 (US-Militäregierung), 1. Dezember 1946 (Volksabstimmung)
  • Einwohner: 6,1 Mio.
  • Fläche: 21.115 km²
  • Bevölkerungsdichte: 291 Einwohner pro km²
  • Regierungschef: Volker Bouffier (CDU)
  • Regierende Parteien: CDU und Bündnis 90/Die Grünen
  • Nächste Wahl: Herbst 2018
  • Minister für Wissenschaft und Kunst: Boris Rhein (CDU)
  • Öffentliche Ausgaben für Kultur: 639 Mio. Euro/Jahr
  • Kulturausgaben je Einwohner: 106,57 Euro/Jahr
  • Kommunalisierungsgrad: 65,0 %

Die Hessen sind anders als die anderen Kinder. Im Hessischen Landtag z. B. geht es im Kulturpolitischen Ausschuss gar nicht um Kulturpolitik: Aus eher unerfindlichen Gründen ist man dort nur für Schulfragen zuständig. Die „Kultur“, im landläufigen wie im kulturpolitischen Sinne, beschäftigt stattdessen den Ausschuss für Wissenschaft und Kunst – jedenfalls am Rande.

 

Das liegt an der etwas ungleichen Verteilung der Mittel zwischen den beiden Disziplinen: Fast 2,7 Milliarden Euro stehen im Etat des zuständigen Ministers Boris Rhein (CDU), doch nur ein Zehntel, 224 Millionen Euro, davon fließt in die Kultur. Das ist einerseits nicht verwunderlich, denn Hessen weist mit 65 Prozent – Tendenz steigend – den zweithöchsten Kommunalisierungsgrad aller Bundesländer bei den Kulturausgaben auf, nach Nordrhein-Westfalen mit fast 80 Prozent. Doch gleichzeitig kommt aus der Landeskasse deutlich mehr Geld für die Förderung von Theatern, Museen, Bibliotheken, kulturelle Begegnung und Bildung als mit 190 Millionen Euro beim immerhin dreimal größeren Nachbarn im Westen.

 

Die nackten Zahlen sind aber nur das Eine; Atmosphäre und Stimmung in einem Land etwas ganz Anderes. Und in diesen emotionalen Sphären scheint das kulturelle Leben Hessens gerade enormen Auftrieb zu haben. Wirklich belegen lässt sich sowas kaum – aber es gibt Indizien.

 

Kassel startet durch
„Du bist keine Schönheit“, sang Herbert Grönemeyer dereinst über seine gefühlte Heimatstadt Bochum. Das könnte man getrost auch über Kassel sagen, nur aus ganz anderen Gründen: Cassel – ja, so elegant schrieb sich das amtlich noch bis 1926 – war 600 Jahre lang die Hauptstadt der Landgrafschaft Hessen bzw. des späteren Kurfürstentums. Die fast durchgängig mit Fachwerkhäusern bebaute historische Innenstadt wurde 1943 in einer einzigen Bombennacht zu mehr als 80 Prozent zerstört. Seitdem ist der Gang durch die Kasseler City keine Freude mehr, zumindest aus Sicht von Architekten und Denkmalschützern.

 

Vergleichbare Ausgangslagen haben in vielen westdeutschen Städten zu einer Abkehr vom kulturellen Fokus insgesamt geführt. Ganz anders am nördlichen Rand Hessens und das gleich mehrfach: Bereits 1955 veranstaltete Kassel die erste documenta. Die weltweit bedeutendste Ausstellungsreihe zeitgenössischer Kunst findet seither alle fünf Jahre statt; 2017 ist es mal wieder soweit. Neben der eigens dafür errichteten Halle werden stets weitere markante Orte im Stadtgebiet eingebunden: Der historische Park Karlsaue, der 300 Jahre alte Museumsbau Fridericianum, der zum Kulturbahnhof umgewidmete frühere Hauptbahnhof.

 

Den bekommt die Bahn allerdings offenbar nie so richtig fertig saniert, das Karikaturenmuseum im Erdgeschoss ist seit Jahren hinter Bauzäunen verborgen – Ende offen. Keinen Kilometer entfernt wartet eine weitere Dauerbaustelle auf ihren Abschluss: Das Landesmuseum Kassel wird seit mittlerweile acht Jahren umfangreich saniert. Nach etlichen Verzögerungen soll es nun aber „in wenigen Monaten“ wiedereröffnen, wie zuletzt eher beiläufig im hauseigenen Blog zu lesen stand. Das Land wird dann insgesamt 200 Millionen Euro in die Museumslandschaft Hessen Kassel investiert haben.

 

Die Stadt selbst konnte mit der Grimmwelt schon im vergangenen Jahr ein großes Museumsprojekt feiern: Die beiden Sprachforscher, Märchensammler und politischen Aktivisten Jacob und Wilhelm Grimm waren ihr Leben lang vielfältig mit Kassel verbunden. Ihre Arbeit wird nun nicht nur in einem spektakulären Museumsneubau präsentiert, sondern auch vorbildlich. Szenografie und Vermittlung der Ausstellung sind voll auf der Höhe der (digitalen) Zeit, die Resonanz darauf übertrifft sogar alle Erwartungen: Bereits im ersten Jahr haben sich mehr als 140.000 Menschen in die Welt des Brüderpaars entführen lassen – gerechnet hatte man mit etwa halb so viel Besuchern.

 

Das Beste soll noch kommen: Kulturhauptstadt Europas
Das absolute Highlight der Kasseler Kulturlandschaft liegt allerdings noch ein paar Kilometer weiter westlich vom Stadtzentrum: Im UNESCO-Welterbe Bergpark Wilhelmshöhe. 2013 haben die Vereinten Nationen die barocke Gartenanlage mit der markanten Herkules-Statue über den weitläufigen Wasserspielen und das darunter gelegene Schloss mit dem begehrten Titel ausgezeichnet. Seitdem ist die Stadt derart euphorisiert, dass der nächste Coup bereits vorbereitet wird: Auf Ini­tiative des Noch-Oberbürgermeisters Bertram Hilgen will man sich für das Jahr 2025 wieder als Europäische Kulturhauptstadt bewerben.

 

Beim ersten Versuch 2005 war Kassel zwar im innerdeutsche Rennen gegen Essen und Görlitz frühzeitig ausgeschieden, doch der Bewerbungsprozess hatte zu einer unerwartet offenen Positionsbestimmung der Stadt geführt. Darin sehen viele örtliche Kulturakteure heute den Auslöser für die ungeahnte Entwicklung im vergangenen Jahrzehnt. Nun soll der Welterbe-Titel für den Bergpark genutzt werden, um doch noch in den europäischen Fokus zu treten. Dieser Plan findet auch in der Bevölkerung eine ungewöhnlich breite Zustimmung. 80 Prozent der Kasseler, Kasselaner und Kasseläner (Einwohner, Eingeborene, dynastische Wohnbevölkerung) sprachen sich in Umfragen für die Kulturhauptstadt-Bewerbung aus.

Das Land hat kulturpolitisch einen Lauf
Kassel ist vielleicht nur das leuchtendste Beispiel eines Trends: In Hessen bewegt sich was und zwar nach vorne. Ein weiteres Indiz ist das aktuelle Plus im Landeskulturetat. Mehr als elf Millionen Euro hat Kulturminister Boris Rhein bei seinem Finanzkollegen Thomas Schäfer für 2016 zusätzlich erwirken können. Das ist zwar kein Quantensprung, aber doch ein Plus von gut fünf Prozent und das in Zeiten, in denen auf Länderebene angeblich immer nur an der Kultur gespart wird.
Dabei ist offenbar ebenfalls endlich angekommen, dass die Freie Szene und Soziokultur seit Jahrzehnten nicht im gleichen Maße an der staatlichen Förderung teilhaben wie die oftmals – nicht zuletzt auch gewerkschaftlich – viel besser organisierten Institutionen der öffentlichen Hand. Vor den letzten Landtagswahlen im Herbst 2013 hatte es sogar noch einen „Hessischen Kultur-Notruf“ gegeben, unterstützt von so namhaften Künstlerinnen und Künstlern wie Katharina

Wackernagel, Erwin Pelzig oder Marc-Uwe Kling.

 

Lang ersehnt: Neue Regeln zur Mittelverwendung
Nun vermeldet die Landesarbeitsgemeinschaft der Kulturinitiativen und Soziokulturellen Zentren (LAKS) stolz ein „Modellprojekt Soziokultur“. Dafür hat man mit dem Minister nicht nur eine Verdoppelung der Landesförderung vereinbaren können, sondern auch deutlich vereinfachte Antrags- und Abrechnungsverfahren. Sogar die ewige Forderung, außer Projekte auch Konzepte und Infrastruktur zu fördern, wurde endlich erfüllt. Für viele mag das wie eine Marginalie klingen – für Künstlerinnen und Künstler, Institute und Initiativen ist das ein Meilenstein im Ringen mit den Regierenden. Zumal man von Darmstadt und Offenbach über Gießen und Marburg bis eben Kassel nun aus der Politik hört: „Wir werden die Freie Szene stärken!“.

 

Mit Wiesbaden liegt das politische Zentrum Hessens gute 170 Kilometer südwestlich von Kassel. Einerseits ist das mitten im Ballungsraum Rhein-Main, aber andererseits irgendwie trotzdem am Rand. Schon im geografischen Sinne: Zwei Brücken über den Rhein führen direkt nach Mainz und damit bereits ins benachbarte Bundesland Rheinland-Pfalz. Die beiden Städte knüpfen bislang nur vorsichtig kulturelle Bande, über eine gemeinsame Veranstaltung im Musikbereich namens Brückenschlag.
Eine stärkere Kooperation der beiden Hauptstädte, die als unmittelbare Nachbarn gleichzeitig am jeweils äußersten Rand ihrer Länder liegen, wäre nicht nur lokal förderlich, sondern darüber hinaus sogar ziemlich innovativ: Im Zusammenspiel von Landeskulturhoheit und kommunaler Selbstverwaltung, vielleicht sogar mit einem neuen „Kulturraum“-Gedanken. Faktisch kämpft man in Wiesbaden allerdings erst um die Kulturentwicklungsplanung. Kulturdezernentin Rose-Lore Scholz lässt die dafür nötigen 250.000 Euro seit Jahren nicht in den Etatentwurf der Verwaltung schreiben, obwohl die Stadtverordneten das explizit beschlossen haben. Das Warum bleibt bis auf Weiteres ihr Geheimnis.

 

Wirklich bestimmend für Wiesbadens Randlage ist jedoch der große Nachbar Frankfurt – nicht die offizielle Landeshauptstadt, dafür aber eine echte Metropole. Bei den jährlichen Kulturausgaben pro Kopf liegt man mit 220 Euro sogar auf Platz Eins aller deutschen Städte. Und die einmalige Museumslandschaft am Main wächst noch weiter: Das lang ersehnte Deutsche Romantik-Museum ist zurzeit im Bau, rund um die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst entsteht ein riesiger Kulturcampus unter anderem mit neuen Standorten für Ensemble Modern, Forsythe Company und die Senckenberg Gesellschaft. Frankfurt ist gerade kulturell die eigentliche Hauptstadt Hessens – ein Bundesland, das seine Stärke gerne an den Rändern zeigt.

 

Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 5/16 erschienen.


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