Sven Scherz-Schade - 1. November 2016 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Kommunale Kulturpolitik

Stuttgart: Immer wieder Gründerzeit


Kulturpolitische Herausforderungen in der Landeshauptstadt Stuttgart

Stuttgart

  • Einwohner: ca. 605.000
  • Fläche: ca. 207 km²
  • Bevölkerungsdichte: ca. 3008 Einwohner pro km²
  • Nächste Oberbürgermeisterwahl: Herbst 2020
  • Nächste Kommunalwahl: 2019
  • Oberbürgermeister: Fritz Kuhn (Bündnis90/Die Grünen)
  • Bürgermeister für Allgemeine Verwaltung, Kultur und Recht: Fabian Mayer (CDU)
  • Kulturausgaben: ca. 147 Millionen Euro pro Jahr
  • Kulturausgaben pro Einwohner: 243 Euro pro Jahr

Lärm und Großbaustelle am Stuttgarter Hauptbahnhof, wo „Stuttgart 21“ voll zu Gange ist. Unweit dahinter steht die neue Stadtbibliothek am Mailänder Platz, die 2011 eröffnet wurde. Die Baukosten für den wunderschönen, quadratisch, praktisch, guten Architekturkracher des Koreaners Eun Young Yi betrugen knapp 80 Millionen Euro. Auf 11.500 Quadratmetern wird hier die Stadtbücherei des 21. Jahrhunderts verwirklicht und statistisch deutlich spürbar sind die Zahlen von Nutzer und Ausleihen seit dem Start nach oben gegangen. Die Schwaben in ihrer Hauptstadt halten viel auf Kultur. Das spürt man kommunalpolitisch. Auf der anderen Seite des Bahnhofs steht die Stuttgarter Oper, die hälftig von der Stadt mitfinanziert wird. Sie wurde 2016 vom Fachmagazin „Opernwelt“ zum insgesamt sechsten Mal als „Opernhaus des Jahres“ tituliert. Das macht froh und stolz und wenn nun demnächst an dem Gebäude umfangreiche und kostenintensive Sanierungen fällig werden, stehen so gut wie alle im Stadtrat dahinter. Das muss sein. Das ist selbstverständlich.

 

Und nächstes Jahr bekommt Stuttgart nun auch noch ein neues Stadtmuseum, das als Abteilung des Kulturamts in Trägerschaft der Stadt geführt werden wird. Es wird in das komplett sanierte Wilhelmspalais einziehen, dort, wo früher die Stadtbibliothek zuhause war. Außen steht noch die historische Fassade, innen wird es quasi ein neues Gebäude. Seit neun Jahren gibt es einen Planungsstab Stadtmuseum, der seitdem auch die Sammlung systematisch aufgebaut hat, vereinzelt mit Exponaten aus dem Depot des Stadtarchivs, aber insbesondere auch in Kontakt und Austausch mit den Bürgern, denn die Ausstellung wird lebensgeschichtlich orientiert, sie soll nicht wie ein konventionelles Heimatmuseum konzipiert werden. Stattdessen präsentiert man Themen der Gegenwart und Zukunft, auch das, was den Diskurs Stuttgarter Zeitgeschichte bestimmt, sodass „Stuttgart 21“ sicherlich mit von der Partie sein wird. Der Wille für ein solches Stadtmuseum – Stuttgart hatte bislang keines – formte sich bereits vor Jahren unter CDU-Bürgermeister Wolfgang Schuster und wurde unter dem neuen Oberbürgermeister (OB) Fritz Kuhn (Bündnis90/Die Grünen) fortgesetzt. Da sich Stuttgarts Kulturpolitik in dieser Angelegenheit auf eine breite bürgerschaftliche Basis stützte, spielten einzelne Partei- oder Fraktionsinteressen hier eine untergeordnete Rolle und en gros lässt sich ähnliches für die kommunale Kulturpolitik generell feststellen. „Ich beobachte grundsätzlich eine fraktionsübergreifende Aufgeschlossenheit im Gemeinderat für kulturelle Fragen“, sagt z. B. die ehrenamtliche Stadträtin Petra Rühle von den Grünen. Kultur gehört – wie in allen Städten – zu den freiwilligen Aufgaben. Einvernehmliche Einsicht, dass diese Freiwilligkeit unverzichtbar ist, bietet insofern hervorragende kulturpolitische Voraussetzungen.

 

Einvernehmlich ist man auch beim nächsten großen Kulturprojekt, dem neuen Haus für Film und Medien. Weil Stuttgart schon lange kein kommunales Kino mehr hat – es war früher im Planetarium untergebracht, später im Filmhaus in der Friedrichstraße, wurde aber 2008 geschlossen –, hat sich eine Initiative aus Vereinen, Haus des Dokumentarfilms, Volkshochschule und anderen zusammengetan, um auf die cineastische Lücke hinzuweisen. Der Stadtrat hat nun Gelder für eine Standortsuche, Erstellung einer Planungsstudie und Betriebskonzeption bewilligt. Es soll ein institutionell gefördertes Haus für Film und Medien geschaffen werden, in dem nicht nur kommunales Kino sondern ebenso ein Workshop-Angebot und Medienbildung stattfinden kann. »Dass Stuttgart ein Haus für Film und Medien bekommen soll, halte ich für sinnvoll und wichtig«, sagt Jürgen Sauer, ehrenamtlicher Stadtrat der CDU-Fraktion. Aber Stuttgart ist eine eng bebaute Stadt in Talkessellage. Da findet sich nicht immer gleich ein Örtchen. In Diskussion ist der Hindenburgbau, wiederum hinterm Hauptbahnhof, ein Neubau oben auf dem Parkhaus des Kaufhauses Breuninger oder die Calwer Passage. Der Planungsprozess läuft.

 

Wie und wo auch immer dieses kommunale Kino neuen Typs hinkommt: Stuttgarts kulturelle Infrastruktur ist damit wieder mal in „Gründerzeit“. So sieht es Birgit Schneider-Bönninger. Sie ist Leiterin des Kulturamts und freut sich selbstverständlich über den Wachstumskurs, insistiert aber, dass ein „Nachhaltigkeits-Management“ wichtig ist. „Wir arbeiten daran, der Politik eine Strategie für eine langfristige, zukunftsorientierte Kulturentwicklung an die Hand zu geben“, sagt sie. Vom Stuttgarter Gemeinderat kam selbst schon Interesse daran, dass man die Kultureinrichtungen evaluiert, um Zielvereinbarungen und Qualitätskriterien zu formulieren. Schneider-Bönninger würde gern zusammen mit den Kultureinrichtungen Prognosen und Szenarien für eine kontinuierliche Weiterentwicklung erstellen.


Worum es geht: Kommunalpolitik hat im Grunde nie eine „Kultur des Aufhörens“ – ein Begriff vom Kulturmanager Armin Klein – etabliert. Lediglich Projektförderungen laufen aus. Ansonsten werden Einrichtungen, die in die institutionelle Förderung aufgenommen werden, auf unbestimmte Ewigkeit hin gefördert. Lange galt das wie eine Lebensversicherung für die jeweilige Kulturinstitution. Doch bleiben – mit dieser Sicherheit im Rücken – die Kultureinrichtungen auch flexibel, um auf den Wandel gesellschaftlicher Herausforderungen zu reagieren? Digitalisierung etwa oder aktuell kulturelle Arbeit mit Flüchtlingen, sind Aufgaben, denen sich alle öffentlich geförderten Einrichtungen zu stellen haben. „Wichtig ist, die Kulturbetriebe mit dieser Zeitdiagnose zu konfrontieren“, sagt Schneider-Bönninger: „Die Schlüsselfrage einer Selbstevaluation lautet: `Was brauchen wir?´“ Ausdrücklich geht es nicht um Rotstift-Konzepte etwaiger Schließungen. Genau das soll ja vermieden werden!

 

2009 gab es in Stuttgart Sparrunden. Auch die Kultur war betroffen, im Kulturhaushalt wurde gekürzt. Daraufhin wurde der Prozess „Kultur im Dialog“ eingeleitet. Kurzzeitig ging auch das Schreckgespenst eines globalen Minderaufwands um, sodass Kultur vier bis fünf Prozent hätte einsparen müssen. Glückliches Stuttgart. Das wurde verschoben. »Aber es lässt sich nicht ausschließen, dass das einmal wiederkommt«, sagt Schneider-Bönninger, die kurz nach Antritt ihres Jobs 2014 einen kulturpolitischen Stammtisch einrichtete. Man trifft sich vier Mal im Jahr, öffentlich im Jazz-Club Bix, durchschnittlich 150 Teilnehmende. Da kommen Kulturakteure aus allen Sparten und Kulturpolitiker zusammen. Ein Schwerpunktthema wird anmoderiert, es wird referiert und diskutiert, dann gibt es Zeit zum Austausch in kleinen Gruppen, später im Plenum. „Wir werten die Ergebnisse aus und transferieren das auf die politische Ebene“, sagt Schneider-Bönninger: „Im Kulturausschuss werden die Ergebnisse dann, meist gebündelt, vorgetragen“. Auf diese Weise seien schon zahlreiche Vernetzungen der kulturellen Sparten und Institutionen und auch Projekte entstanden. Jede Woche hält Schneider-Bönninger auch eine Kultursprechstunde. In unregelmäßigen Abständen lädt man zu größeren Dialogforen im Rathaus, die sich mit aktuellen Brennpunkt-Themen befassen. Wenn man so will: Auch diese Dialog-Kultur war eine Art Gründerphänomen und sie ist eine gute Voraussetzung, im einsichtigen Austausch miteinander jene Art von Entwicklungsplanung für die Kultur zu thematisieren. Stuttgart denkt vor, auch wenn es nicht akut von Einsparungen bedroht ist. Beide Kommunalpolitiker, Petra Rühle wie auch Jürgen Sauer, begrüßen das und sie wiederholen ausdrücklich, dass man damit keine Streichung oder Schließung vorbereite. Im Gegenteil: Jürgen Sauer fordert einen neuen Musikspielort mittlerer Größenordnung ab 500 bis 2.500 Plätze. Liederhalle und Co. reichten bei Weitem nicht mehr aus. Viele Konzertveranstalter machten einen Bogen um Stuttgart und würden in die umliegende Region ausweichen. Damit hat er Recht, schaut man sich den Ballungsraum an mit Fellbach, Böblingen, Ludwigsburg und wie die mittelgroßen benachbarten Städte alle heißen. Dort herrscht hervorragende Kulturversorgung.
Das Musterländle hat Geld. Seine Hauptstadt auch. 147 Millionen Euro beträgt der Kulturgesamtetat laut Haushaltsplan 2017 für alles, d. h. inklusive der Personalkosten der Mitarbeiter beim Kulturamt plus sechs Abteilungen (Philharmoniker, Stadtbibliothek etc.). Davon gehen 23 Millionen Euro an die „externe“ institutionelle Förderung ohne Staatstheater und 1,4 Millionen Euro an Projekte. Weil im Gemeinderat ein Kulturkonsens gilt, sind diese Budgets stabil bzw. die Zeichen stehen eher auf Weiterentwicklung. Mit dem aufgestellten Doppelhaushalt 2016/17 sind neue Projektfonds hinzugekommen zur kulturellen Bildung, zur Club-Förderung, eine Aufstockung gab es bei der Interkultur und Kulturarbeit mit Flüchtlingen. Es wurde auch beschlossen, die Theater z. B. zu unterstützen, die mit viel Personal arbeiten und Tarif-Erhöhungen und Preissteigerungen bedienen müssen. Eingeleitet wurden deshalb „Maßnahmen zur strukturellen Unterfinanzierung der personalintensiven Kultureinrichtungen“, sodass Kulturbetriebe, die mit 30 Beschäftigten und mehr arbeiten, nun 12,5 Prozent mehr Finanzen von der Stadt erhalten.

 

Stuttgart nutzt die Kultur mittlerweile in besonderem Maße für die Stadtentwicklung. Das zeigt sich bei den sogenannten Wagenhallen am Nordbahnhof, die jetzt mit 30 Millionen Euro saniert werden, damit hinterher eine große Atelierhalle für Künstler sowie Raum für Konzertbetrieb entsteht. An die Wagenhallen grenzt ein Areal, auf dem unweit des Rosensteinparks ein neues Wohngebiet entsteht. Das Quartier entwickelt sich somit, nachdem die Kultur schon da ist. Oft ist es umgekehrt.

 

Seit Mitte Oktober hat Stuttgart nun auch wieder einen neuen Kulturbürgermeister. Fabian Mayer (CDU) leitet das Referat „Allgemeine Verwaltung, Kultur und Recht“. Der Posten war noch offen, nachdem Vorgängerin Susanne Eisenmann (CDU) im Mai 2016 in die Landesregierung ins Kabinett Kretschmann II wechselte bzw. „aufstieg“. Nun ist sie Kultusministerin. Auch personalpolitisch ist Stuttgarts Kulturpolitik hochinteressant. Hier bahnen sich Karrieren.

 

Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 06/2016 erschienen.


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