Die Reformation war eine Bildungs-Bewegung
Philipp Melanchthon – Weggefährte Luthers und „praeceptor Germaniae“
Dies wird uns besonders vor Augen geführt, wenn wir im Zusammenhang der Reformationsdekade „Luther 2017“ mit Blick auf den 450. Todestag des kongenialen Freundes und Weggefährten Martin Luthers im Themenjahr „Reformation und Bildung“ das Melanchthonjahr feiern. Philipp Melanchthon (1497-1560) wurde schon zu Lebzeiten „praeceptor Germaniae“, „Lehrer Deutschlands“ genannt.
Als ein in europäischer Tradition stehender Theologe und Philosoph machte er auf die anthropologischen Grundbedingungen und Ziele von Bildung aufmerksam. Als Pädagoge und Bildungspolitiker verwies er auf den notwendigen Zusammenhang von Bürgersinn und Schulbildung für die Vitalität einer couragierten Zivilgesellschaft. Mit seiner „Lobrede auf die neue Schule“ ist er damit noch immer hochaktuell. „Wer keine Mühe darauf verwendet, daß seine Kinder so gut wie möglich unterrichtet werden, handelt nicht nur Pflichtvergessen gegenüber Gott, sondern verbirgt hinter einem menschlichen Aussehen seine tierische Gesinnung.[…] Daher besteht gerade in einer wohlgeordneten Bürgerschaft ein Bedarf an Schulen, in denen die Jugend, die Pflanzstätte der Bürgerschaft, ausgebildet wird.“
Dass Melanchthon am 28. August 1518 seine Antrittsvorlesung an der Wittenberger Universität – vor Luther und einer großen Zuhörerschaft – „Über die Studienreform“ („De corrigendis adulescentiae studiis“) hielt, ist bezeichnend und programmatisch. Er übte Kritik an der scholastischen Philosophie ebenso wie am rein äußerlichen Zeremonienwesen der Kirche. Die Unkenntnis der alten Sprachen hielt er für eine der Wurzeln des intellektuellen Desasters seiner Zeit. Darum warnte er vor einem direkten, ungebildeten, rein emotionalen Zugang zu den existenziellen theologischen und philosophischen Fragen menschlichen Seins und Sollens. Wer beispielsweise nichts vom Graubrot der Sprachwissenschaft halte, „[…] renne wie ein Schwein in die Rosen.“
„Philipp Melanchthon wurde (…) Lehrer Deutschlands genannt.“
Wie Melanchthon so betonte auch Martin Luther (1483-1546) selbst immer wieder die Bedeutung einer lebensdienlichen und – wir würden heute wohl sagen: ganzheitlichen – Kinder- und Jugenderziehung. Vor dem Hintergrund eines grassierenden „Bildungsnotstandes“, weil „[…] man allenthalben die Schulen untergehen läßt“, richtet er 1524 einen dringenden Appell „An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen“.
Luther ermahnte die politischen Verantwortungsträger seiner Zeit zu spürbaren Investitionen in die Bildung. „Das ist – so schreibt er – ungemein gut angelegt.“ Mit einem eindringlichen sozialpolitischen Votum, ganz im Sinne des Propheten Jeremia (29,7) „Suchet der Stadt Bestes“, begründete er die Nachhaltigkeit solcher Investitionen in die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Diese Investition läge in einem elementaren landespolitischen Eigeninteresse, denn „[…] das Gedeihen einer Stadt [besteht] nicht allein darin, daß man große Häuser, viele Kanonen und Harnische herstellt. […] Vielmehr das ist einer Stadt Bestes und ihr allerprächtigstes Gedeihen, ihr Wohl und ihre Kraft, daß sie viele gute, gebildete, vernünftige, ehrbare, wohlerzogene Bürger hat, die dann sehr wohl Schätze und Güter sammeln können, sie erhalten und recht gebrauchen.“
Lutherische Pädagogik setzt konsequent und biblisch gut begründet bei der Familie, bei den Eltern, an. Kluge und verantwortungsbewusste Eheleute sollten wissen, „[…] daß sie Gott, der Christenheit, aller Welt, ihnen selbst und ihren Kindern kein besseres Werk und Nutzen schaffen mögen, als daß sie ihre Kinder wohl aufziehen. Denn das ist ihre direkteste Straße zum Himmel.“
Diese „Himmelsstraße“ verdiene sorgfältige Pflege. Denn ihre Vernachlässigung bleibt für Eltern wie für Kinder nicht folgenlos, ja, sie ist „der größte Schade der Christenheit.“
„Aber wiederum ist die Hölle nicht leichter verdient als an seinen eigenen Kindern. Die Eltern mögen auch kein schädlicheres Werk tun, als daß sie ihre Kinder vernachlässigen, sie fluchen lassen, schwören, schändliche Worte und Lieder lernen und nach ihrem Willen leben. […] Es ist kein größerer Schade der Christenheit als das Versäumnis an Kindern.“ Luther unterscheidet „äußere“, „fleischliche“ Fürsorge und Erziehung, die auf die materielle Sicherheit und das Weltwissen der Kinder gerichtet ist, und „innere“, „seelische“ Bildung, die in den Heranwachsenden – entwicklungspsychologisch gesprochen – ein lebensnotwendiges, elementares Grundvertrauen entstehen lässt. Von Natur aus, meint der Reformator, seien Menschen eher auf das Äußere aus und liefen somit Gefahr, die eigentlichen „seelischen Schätze“ zu verkennen, zu missachten oder gar zu verderben.
„Die falsche Naturliebe verblendet die Eltern, daß sie das Fleisch ihrer Kinder mehr achten als deren Seelen. Kinder sind ein köstlicher, ewiger Schatz, der den Eltern von Gott zu verwahren befohlen ist, daß ihn der Teufel, die Welt und das Fleisch nicht stehlen und umbringen.“
Die Reformation war eine Bildungs-Bewegung. Dieser reformatorische Impuls findet seine Fortsetzung auch in der gegenwärtigen Bildungspolitik in Thüringen. Weil wir die Bildungsfrage für die „soziale Frage des 21. Jahrhunderts“ halten, sind wir – wie Melanchthon und Luther, wie der Saalfelder Reformator Kaspar Aquila (1488-1560) oder der Gothaer Friedrich Myconius (1490-1546), die Erfurter Johannes Lang (1487-1548) oder Justus Jonas (1493-1555) – der Überzeugung, dass gezielte Investitionen in die Bildung von Kindern und Jugendlichen die Grundlage für das common good, für die Wohlfahrt dieses Landes schaffen.
„Luther-Land Thüringen“ darf keine nostalgische Bezeichnung, sondern muss eine permanente Inspiration und Selbstverpflichtung für mehr Bildungsgerechtigkeit sein. Wenn dieser reformatorische Ansatz „Schule macht“, dann wird gute Schule wesentlich zu einem guten, zukunftsfähigen Leben und Arbeiten betragen. Diese Bildungs-Bewegung ist dann – mit Luther gesprochen – „eine Straße zum Himmel“, die hier auf Erden ganz konkrete und erkennbare Spuren hinterlässt.
Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 05/2010 erschienen.
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