Heute würde Luther twittern - Reformation und Neue Medien
Auf den ersten Blick erscheinen Luthers Äußerungen als Inbegriff von Authentizität. Wenn jemand „amore et studio elucidande veritatis“ spricht, „aus Liebe zur Wahrheit und dem Eifer, sie erscheinen zu lassen“ (so die ersten Worte der 95 Thesen von 1517), dann verpflichtet er sich selbstlos auf höhere Werte. Wenn er seine Ausführungen mit „Jesus“ beginnt und mit „Amen“ beendet, (so in „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ von 1520), dann adressiert er den Allerhöchsten mit, vor dem nichts verborgen bleibt. Und wenn jemand unter Lebensgefahr sagt, er könne nicht gegen sein Gewissen sprechen, „Gott helfe mir, Amen!“ (so in dem Bericht über das Verhör vor dem Wormser Reichstag 1521), dann ist dies existenziell beglaubigt. Jeder Hintergedanke wird durch solche Rahmungen ausgeschlossen. Als unmittelbare Bekenntnisrede kommt Luthers Sprache uns entgegen. So hat sie im Deutschen stilprägend gewirkt.
Zu diesem Eindruck von Unmittelbarkeit trägt bei, dass wir Luther immer sprechen sehen. Vor den Thesen steht eine persönlich gehaltene Einladung. Die Freiheit eines Christenmenschen ist eine Vorlesung, der Auftritt vor dem Wormser Reichstag eine Verteidigungsrede. All diese Äußerungen (und viele weitere) sind als Sprechakte gestaltet, in denen uns Luther als Person gegenüberzutreten scheint. Als Kommunikation unter Anwesenden stellt Mündlichkeit Nähe und Vertraulichkeit her. Damit beglaubigt sie Aussagen und lässt sie als direkten Ausdruck für die Gedanken des Sprechenden erscheinen.
Erst auf den zweiten Blick merken wir, dass es sich um eine fingierte Mündlichkeit handelt. Denn die Einladung zur Disputation erging schriftlich. Die Vorlesung wurde gedruckt. Die Verteidigungsrede lesen wir in einem sorgfältig redigierten Bericht. Zwischen Luthers Sprechakt und uns liegt die Schrift. Der Eindruck von Unmittelbarkeit, heißt das, ist in Wirklichkeit medial vermittelt. Er entsteht durch die Art, wie Luther die Schrift handhabte. Mit anderen Worten: Er entsteht als medialer Effekt.
Wir können die Medialität von Luthers Äußerungen präzisieren. Luther bediente sich des Drucks und zwar in allen Formen, am wirkungsvollsten aber in denen, die zu seinen Lebzeiten neu waren: der Flugschrift, auch des Flugblatts und des gedruckten Bildes (Luther war der erste, der sein Porträt zum Markenzeichen machte). Es ist oft gesagt worden, dass er mit Hilfe der damals neuen Druckmedien viel mehr Menschen erreichte als jeder Kirchenreformer zuvor. Selten festgestellt und wenig untersucht hat man hingegen bisher, wie er die neuen Medien eigentlich gebrauchte.
„Es weist Luther durch seine Medienkompetenz als einen Menschen der Neuzeit aus.“
Wer so fragt, stößt auf einen paradoxen Befund. Die neuen Druckmedien erweiterten die Kommunikation über die Menschen hinaus, die in einer Situation anwesend waren. Und die gedruckten Texte und Bilder befreiten die Kommunikation von der Kontrolle, die man noch über Handschriften ausüben konnte. Wer an einen Luther-Druck gelangte und wo und wie man damit umging (allein oder in der Gruppe, in der Gelehrtenstube oder auf dem Markt, in der Gemeinde, der Gebetsbruderschaft oder bei der Hausandacht), das war jetzt offen. Nur deshalb konnte jene „reformatorische Öffentlichkeit“ entstehen, die soviel zum Erfolg von Luthers Neuerungen beigetragen hat. Das heißt, die gedruckten Schriften und Bilder erreichten nicht nur viel mehr Menschen, sie ließen auch ein anonymes und heterogenes Publikum entstehen. An dieses Publikum aber wandte Luther sich, als spräche er jede und jeden einzeln an. Viele seiner Flugschriften sind als „Sendschreiben“ gestaltet, als – offene! – Briefe, denen ein persönlich gehaltener Freundschaftsgruß an einen realen Adressaten vorangestellt ist. Oder Luther kleidet seine Belehrungen in einen „Sermon“, eine gedruckte Predigt, in der er als Seelsorger wie zu einer Gemeinde spricht. Die fingierte Mündlichkeit seiner Schriften stellte also künstlich jene Nähe und Vertraulichkeit wieder her, die das neue Medium Druck gerade zum Verschwinden brachte. Man wird nicht fehlgehen, wenn man darin einen Schlüssel für Luthers Erfolg erblickt. So verstreut seine Leserinnen und Leser sein mochten, so fern sie sich standen, durch die Art und Weise, wie Luther sich an sie wandte, vermittelte er ihnen den Eindruck, zu einer vertrauten Gemeinschaft zu gehören. Ein Medium für die Kommunikation von räumlich, zeitlich und ständisch Getrennten nutzte Luther, indem er die Kommunikation wie eine unmittelbare zwischen Anwesenden gestaltete. Und ein Medium für die Kommunikation mit vielen unbekannten, unberechenbaren Rezipienten gebrauchte Luther, indem er sie als Zuhörerschaft und Verbündete ansprach. Luthers Gebrauch der neuen Druckmedien bestand darin, dass er sie vergessen machte.
Wie gekonnt dies geschah, lässt sich an Luthers Wahl seiner Textsorten zeigen. Ob die Disputation, zu der er mit seinen Thesen einlud, wirklich stattfinden sollte, wissen wir nicht. Klar ist jedoch, indem Luther diese Form der Einladung wählte, konnte er seinen Angriff auf die Ablassprediger als ergebnisoffene Wahrheitssuche erscheinen lassen. Von der Freiheit eines Christenmenschen sollte der päpstlichen Seite ein theologisches Verständigungsangebot unterbreiten – dafür schien die Form einer dialektischvielstimmigen Vorlesung geeignet. Und wie immer Luther in Worms wirklich aufgetreten sein mag, seine Flugschrift mit der vermeintlich sachlich-dokumentarisch wiedergegebenen Wechselrede legte sich über das reale Ereignis und hat dessen Wahrnehmung erfolgreich bestimmt. In der Wahl der Textsorte steckt also Kalkül. Die Mündlichkeit ist medial fingiert. Der Eindruck von Authentizität beruht auf Rhetorik.
Man sollte diese beiden Dimensionen von Luthers Äußerungen nicht gegeneinander ausspielen. Dass Luthers Äußerungen medial vermittelt und rhetorisch kalkuliert sind, nimmt ihnen nichts von ihrer Radikalität. Es gibt ihnen vielmehr eine historische Signatur. Es weist Luther durch seine Medienkompetenz als einen Menschen der Neuzeit aus.
Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 04/2011 erschienen.
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