Regine Möbius - 1. Juni 2011 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Reformationsjubiläum

Mein Luther – ihr Luther?


Die Bereitschaft der Christen zum problembewussten Denken und Handeln hat durch die Reformation eine andere Bewusstheit erfahren. Mit ihr erhielten Philosophie und Geschichtsbetrachtung eine neue Selbstständigkeit. Das persönliche Gewissen und die eigene Verantwortung bekamen Vorrang vor den durch den Klerus postulierten Normen. Freiheit in Gehorsam und Gehorsam in Freiheit sind die Grundthesen reformatorischen Denkens.

 

Nur dreißig Jahre drehe ich jetzt das Rad der Geschichte zurück, wir schreiben das Jahr 1981. Auf kirchlicher wie auf staatlicher Seite – und damit meine ich auf DDR-staatlicher – waren die Vorbereitungen zu den Feierlichkeiten anlässlich des 500. Geburtstags Martin Luthers am 10. November 1983 in vollem Gange. War dieser Anlass für die SED-Führung doch in vielerlei Hinsicht nutzbar: Außenpolitisch konnte man sich kirchenfreundlich geben, innenpolitisch galt es, der Kirche ein bestimmtes ideologisches Korsett anzulegen. Zu diesem Zweck organisierte Erich Honecker, der Schirmherr der Lutherehrungen war, dass er ebenfalls zum Vorsitzenden des staatlichen Martin-Luther-Komitees gewählt wurde, womit er sich den Schein von Großzügigkeit geben wollte. Viele der staatlichen und kirchlichen Luther-Gedenkstätten sanierte man umfassend. Dem Reformator selbst wurde eine ideologische und wissenschaftliche Neubewertung zuteil, verbunden mit einer Beerdigung Luthers als reaktionärem Gegenpart Thomas Münzers. Von „protestantischer Ethik“ und „biblischem Arbeitsethos“ war nun während der Luther-Feierlichkeiten aus staatlichem Mund zu hören. Beides wäre „mit den Prinzipien sozialistischer Arbeitsmoral aufs engste verwandt“. Der von 1960 bis 1989 stellvertretende Vorsitzender des Ausschusses für Nationale Verteidigung und von 1960 bis 1989 stellvertretende Vorsitzender des Staatsrates der DDR, CDU-Chef Gerald Götting, konstatierte auf einem Festakt des staatlichen Lutherkomitees in der Berliner Staatsoper: „Dem Streben nach Frieden soll nach Luther auch das sogenannte Schwertamt des Staates dienen, also die bewaffnete Verteidigungsbereitschaft.“ (G. Götting: „In gemeinsamer Aktion für die Bewahrung des Lebens“, Neues Deutschland, 10. November 1983) Vielleicht werden aus heutiger Sicht die damaligen Bemühungen der Evangelischen Kirche um eine eigenständige Positionierung im Kontext des Lutherjahres als zögernd eingestuft, denn es war der SED in Teilen gelungen, die Kirchenleitungen so einzuschüchtern, dass diese ihrerseits versuchten, oppositionelle Gruppen im Land zum Schweigen zu bringen. Ungeachtet dieser Beobachtung erschien uns bereits die Losung der Kirchentage 1983 in Erfurt, Rostock, Frankfurt a.d.O., Magdeburg, Eisleben, Dresden und Wittenberg, „Vertrauen wagen“, als ein wichtiges und mutiges Zeichen, das dem Staat signalisieren sollte, die evangelische Kirche hält durchaus an der Hoffnung fest, es könne ein Miteinander von Christen und dem Staat geben. Auf dem Wittenberger Kirchentag wurde sogar ein Schwert in eine Pflugschar umgeschmiedet. Damit verstärkte sich der Symbolgehalt des vom Staat so bekämpften Zeichens der Friedensbewegung in der DDR „Schwerter zu Pflugscharen“ um ein Vielfaches. Doch im Herbst, wenige Tage nach Beendigung der Luther-Feierlichkeiten, zeigte das totalitäre SED-System, was es unter einem Miteinander von Staat und Kirche verstand und begann massiv die kirchliche Friedensbewegung zu behindern. Bereits im Vorfeld der Friedensdekade vom 6. bis 16. November – sie stand unter dem Motto: „Frieden schaffen aus der Kraft der Schwachen“ – hatten die Staatsorgane alle Möglichkeiten genutzt, um Demonstrationen zu verhindern. Vereinzelt war es bereits zu Arbeitsentlassungen, Zuführungen und Verhaftungen gekommen.

„Martin Luther hat mittels der Reformation die weltliche und kirchliche Ordnung zu ihren christlichen Aufgaben zurückgeholt.“

In Leipzig fanden sich in verschiedenen Kirchen täglich junge katholische und evangelische Christen zusammen, deren Diskussionen und Kerzendemonstrationen in die nichtkirchliche Öffentlichkeit hineinstrahlten und viele andere unzufriedene Jugendliche anzogen. In der Nikolaikirche wurden an manchen Abenden mehr als 1.000 Besucher gezählt. Nach den Friedensgottesdiensten stellten sich kleinere Gruppen von ca. 30 Jugendlichen schweigend mit brennenden Kerzen nahe der großen Stadtkirchen auf den Leipziger Markt und protestierten stumm. Da Polizeikräfte diese friedlichen Aktionen mit deutlichem Nachdruck auflösten und Schlimmeres zu befürchten war, bat die Kirchenleitung in den Friedensgottesdiensten die Teilnehmer darum, die Protestaktionen in den geschützten Kirchenraum zu verlegen.

 

Viele der Protestierer sahen das als Referenz an den Staat an und wollten sich nicht beugen. Den Ausklang des Lutherjahres 1983 bildeten in Leipzig die „Ökumenischen Begegnungstage“ und der Beginn der alljährlich stattfindenden Dokumentar- und Kurzfilmwoche. Am letzten Tag der Friedensdekade der Evangelischen Kirchen der DDR versammelten sich in der Innenstadt etwa 50 Demonstranten vor dem Filmtheater Capitol. Sie mischten sich unter die Schaulustigen, die auf die Ankunft der Schauspieler und Filmemacher warteten. Ausgerüstet waren sie mit den Kopien eines Briefes, den kirchliche Mitarbeiter zusammen mit den aufgeheizten Jugendlichen geschrieben hatten. Er sollte an das Präsidium der Dokumentarfilmwoche übergeben werden, um Personen der Öffentlichkeit von den Übergriffen des Machtapparates in Kenntnis zu setzen. Die Hoffnung war, dass einige der Demonstranten es schaffen würden, mit ihren Briefexemplaren bis zu den Limousinen der Stars vorzudringen. Längst aber war die Aktion durch eingeschleuste IMs der Staatssicherheit bekannt.

 

Nahezu zeitgleich stürzten mit den Demonstranten mit Knüppeln bewaffnete „Zivilisten“ in Richtung der angekommenen Autos. Die Jugendlichen wurden überwältigt und auf Polizei- und Lastwagen geladen, die plötzlich aus den Nebenstraßen kamen. Das alles dauerte nur wenige Minuten. Insgesamt 17 Mädchen und Jungen wurden festgenommen. Sie kamen größtenteils aus unserer Jungen Gemeinde in Leipzig-Leutzsch. Später erfuhren wir, dass sie in entwürdigenden Posen verhört worden waren. Gegen sieben wurden Ermittlungsverfahren wegen illegaler staatsfeindlicher „Zusammenrottung“ eingeleitet. Regelmäßig besuchte unser Gemeindepfarrer Martin L. die Verurteilten in der Haft. Die Reformation, die aus dem Widerspruch eines einzelnen unbekannten Mönchs gegen die Ablasspropaganda entstanden war, wurde zu einem historischen Ereignis, dessen Tiefen- und Breitenwirkung nahezu einmalig ist. Martin Luther hat mittels der Reformation die weltliche und kirchliche Ordnung zu ihren christlichen Aufgaben zurückgeholt.


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