Carsten "Storch" Schmelzer - 25. Februar 2013 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Reformationsjubiläum

Luther und die Hölle


Oder: Über die Abschaffung des Fegefeuers

Als Martin Luther 1501 nach Erfurt ritt, konnte er nicht wissen, dass die Reise sein Leben für immer verändern würde. Auf dem Weg wurde er „durch einen Blitzstrahl bei Stotternheim nicht weit von Erfurt derart erschüttert“, dass er vor Schreck rief: „Hilf du, heilige Anna, ich will ein Mönch werden!“ Heute klingt das sehr extrem. Warum weiht jemand in Todesgefahr sein Leben einer Heiligen? Luthers Versprechen erklärt sich aus seiner Weltsicht. Als Mensch des ausgehenden Mittelalters war seine Furcht vor dem Tod mit einer greifbaren, realen Angst vor dem Fegefeuer verknüpft, die ihn sehr quälte. Diese Angst stand für Luther mit konkreten Vorstellungen in Verbindung. Hölle und Fegefeuer waren Orte voller Qual, Gottesferne und Einsamkeit, die ein Mensch um jeden Preis vermeiden wollte. Da lag es nahe, Vorsorge zu treffen.

 

Es wäre falsch, Luthers Angst vor dem Jenseits als Angst vor der Hölle zu sehen. Der katholische Glaube bot eine gewisse Sicherheit vor der ewigen Verdammnis, problematischer war das Fegefeuer. Durch dieses mussten auch die Geretteten auf dem Weg ins Paradies hindurch. In der Vorstellung war es nicht weniger furchterregend als die Holle, zumal die kirchliche Werbung gewaltige Bemühungen darauf konzentrierte. Der rege Ablasshandel, den Luther später angriff, florierte – durch bildliche Darstellungen in Betrieb gehalten – so sehr, dass er den Bau des Petersdoms finanzierte. Dantes Göttliche Komödie war bei weitem nicht das einzige Werk, in dem das Purgatorium behandelt wurde. So entstand eine Angst, die Menschen durch ihr ganzes Leben begleitete. Luthers intensive Beschäftigung mit der Rettung vor den Qualen des Jenseits zeigt, wie tief diese Furcht in seinem Denken wurzelte.

 

Er hielt sein Versprechen und trat ins Kloster ein. Doch obwohl er ein frommer Mönch war, der alle Übungen ableistete und sich selbst kasteite, verfolgte ihn noch immer die Angst vor dem Endgericht. In dieser Phase eines Lebens hegte er noch keinen Zweifel an der kirchlichen Lehre von Fegefeuer und Ablass. Im Gegenteil, während seines Aufenthaltes in Rom rutschte er noch auf Knien die heilige Treppe am Lateran hinauf, um seinen verstorbenen Verwandten im Purgatorium zu helfen. Luthers Haltung zum jenseitigen Leben begann sich erst zu andern, als er sein berühmtes Turmerlebnis hatte. Später erinnerte er sich, in der Einleitung zu seinen lateinischen Schriften, an dieses Ereignis. Jedes Mal, wenn er über Gottes Gerechtigkeit in Römer 1,17 nachdachte, wurde sein Gewissen unruhig. Obwohl er als Mönch untadlig lebte, fühlte er sich von Gott verdammt. „Ich hasste dieses Wort ›Gerechtigkeit Gottes‹, das ich durch den Gebrauch und die gewohnte Verwendung bei allen Gelehrten gelehrt worden war, philosophisch zu verstehen von der, wie sie sagen, formalen oder aktiven Gerechtigkeit, durch die Gott gerecht ist und die Sünder und die Ungerechten straft.“

„Die Abschaffung des Fegefeuers und die Erkenntnis, dass Gerechtigkeit ganz aus Glauben an Gottes Gnade kommt, sind zwei große reformatorische Errungenschaften.“

In jenem Turm hatte er eine Erkenntnis. Er verstand, dass Gottes Gerechtigkeit nicht formal zu verstehen ist, sondern als etwas, das er dem Gläubigen zuspricht. „Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes als die Gerechtigkeit zu verstehen, durch die der Gerechte als durch Gottes Geschenk lebt, nämlich aus dem Glauben.“

 

Über das Ereignis selbst ist so gut wie nichts sicher bekannt, aber seine Bedeutung für die Geschichte der Kirche und Europas kann kaum übertrieben werden. Luther hatte gefunden, was er gesucht hatte, war aber zugleich skeptisch geworden gegenüber dem, was er gelernt hatte. In diesem Turmzimmer wurde die Basis für zwei der Hauptsätze der Reformation gelegt. „Sola fide“ (allein aus Glauben) führte fast automatisch zu „sola scriptura“ (allein die Schrift). Von diesem Moment an nahm Luther die Theologie der Kirche kritisch unter die Lupe. Bald darauf (1517) schlug er seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg.

 

In den Thesen wendet sich Luther zwar gegen kirchliche Missstande wie den Ablasshandel, kritisiert aber nicht die kirchliche Höllenlehre. Die Hölle erscheint in drei Thesen am Rande, sie ist nicht Gegenstand des Reformprogramms. Es ist bemerkenswert, dass auch das Fegefeuer noch vorausgesetzt wird. Luther kritisiert zwar die Ablasspraxis, zieht aber die Existenz des reinigenden Feuers selbst nicht in Frage.

 

Dass sich seine Einstellung zu diesem Thema mit der Zeit drastisch änderte, zeigt eine Predigt aus dem Jahr 1530, der „Widerruf der Lehre vom Fegefeuer“. Luther sah es problematisch, dass die Hauptstelle, auf die sich Vertreter des Purgatoriums stutzen, 2. Makkabäer 12, 43-46 ist. Eine Stelle, die „nicht zu den heiligen Schriften zahlt und auch von den alten Vätern nicht als Heilige Schrift angenommen worden ist.“ Letztlich scheitert also die Lehre des Purgatoriums an beiden reformatorischen Grundsätzen. Am „sola fide“, weil allein der Glaube an die Erlösung durch Christus rettet; am „sola scriptura“, weil die Bibel keine Referenz auf das Fegefeuer enthalt. Endgültig hatte sich Luthers Haltung in den Schmalkaldischen Artikeln (1537) gewandelt. Dort heißt es: „Darum ist das Fegfeuer mit all seinem Gepränge, Gottesdiensten und Geschäftemachereien für ein bloßes Teufelsgespenst zu halten.“ Als Begründung führt Luther an, dass allein „Christus, und nicht Menschenwerk den Seelen helfen soll.“ Diese Begründung zeigt, worum es Luther eigentlich ging. Nicht um eine Lehre des Lebens nach dem Tod, sondern um die Rettung der Seelen.

 

Dennoch schüttete Luther nicht das Kind mit dem Bade aus. Dass er die Lehre des Purgatoriums nicht halten mochte, bedeutet nicht, dass er auch die Hölle in Frage stellte. Er dachte sicher nicht, dass alle Menschen im Endgericht gerecht gesprochen wurden. Tatsachlich tat Luther möglicherweise mehr als jeder andere, um die Lehre der ewigen Hölle auch im gemeinen Volk zu verankern. Als 1522 die Erstausgabe seiner deutschen Übersetzung des Neuen Testamentes herauskam, übersetzte er das griechische Wort Gehenna konsequent mit „Helle“. Damit verankerte er das Wort bis heute fest in unserem Sprachschatz. Auch wenn er keine eigenständige Theologie der Hölle vorgelegt hat, hinterlasst Luther ein großes Erbe an diesem Punkt. Die Abschaffung des Fegefeuers und die Erkenntnis, dass Gerechtigkeit ganz aus Glauben an Gottes Gnade kommt, sind zwei große reformatorische Errungenschaften.

 

Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 02/2013 erschienen.


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