Petra Bahr - 5. Januar 2011 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Reformationsjubiläum

Lob des Geheimnisses – Luther lesen!


Vom „falsch Zeugnisreden“: Medienrevolutionen und ihre Folgen

Zu den beabsichtigten Nebeneffekten, die mit dem Gedenken an große historische Ereignisse einhergehen, gehört normalerweise die Wiederentdeckung eines Werkes, das oft als Klassiker ist Goldschnitt in den Bücherregalen verstaubt, bis eine neue Generation von Lesern und Leserinnen es für ihre Zeit entdeckt. So geht es jedenfalls den großen Figuren unserer Kultur. Komponisten werden wieder aufgeführt und verschollene Partituren entdeckt, Dichter werden wieder aufgelegt und verlorene Briefe werfen ein neues Licht auf ihn, Dramatiker, deren Sprache als altertümlich und fade galten, sprechen in neuen Inszenierungen frech und ungeniert in unsere Gegenwart, als hätten sie direkt für unsere Zeit geschrieben.

„Luther lesen lohnt sich!“

Klassiker erkennt man daran, dass sie jede Zeit und ihre Rezeption überleben. Das gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, dass Menschen sie wieder in die Hand nehmen, den Staub wegpusten und sich auf Entdeckungsreise machen.

 

Luther lesen – das ist so eine Entdeckung. Luther lesen, das ist wahrlich nicht nur was für Kirchenhistoriker und Pfarrerinnen. Seine Sprache ist prall und lebensnah, seine Gedanken voller Hintersinn und geistiger Kraft. Wer den Geist der Freiheit wirklich spüren will, der sollte sich nicht auf die Secondhandinformationen von Biographien, Reiseführern und Jubiläumsfestschriften verlassen.

 

Selber lesen! Dieser Satz ist nicht nur im Kern die Zusammenfassung des reformatorischen Bildungsideals, das mündige Christinnen und Christen vor Augen hat, die in den heiligen Texten ihren profanen Alltag wiederentdecken, der sich im Horizont der Bibel ganz neu und anders deuten lässt. Selber lesen sollte auch das Motto der Reformationsdekade sein. Man muss gar nicht mit den gewichtigen theologischen Texten anfangen. Die berüchtigten 95 Thesen eigenen sich nicht gerade als Einstieg und die Heidelberger Disputation braucht schon einiges an philosophischen Hintergrundinformationen. Es gibt aber Texte, die kommen einem sofort entgegen in ihrer Alltagsnähe und Lebensklugheit. Und sie eignen sich für Leser und Leserinnen aller Konfessionen und Überzeugungen. Wie Luthers Kommentar zum 8. Gebot im großen Katechismus, einer Art Handapparat zu den christlichen Essentials: zehn Gebote, Vaterunser, Abendmahl und Taufe, eine Haustafel mit Gebeten und Überlegungen zu allen Gelegenheiten, zur Orientierung und als Lebensbuch in Zeiten vor Wikipedia. Wie war das noch mal?

 

Nachschlagen! Im achten Gebot geht es ums „falsch Zeugnisreden“. Ein Tatbestand aus der Gerichtswelt, sollte man meinen. Doch Luther setzt eine andere Pointe. Natürlich hält auch er ein Plädoyer für das rechte Recht ohne gekaufte Zeugen und verleumderische Aussagen. Niemand soll sich mit Geld und guten Worten einen Richterspruch kaufen können. Typische Machtkritik, wie Luther so oft in Alltagstexte schmuggelt. Eigentlich geht es Luther aber um die destruktiven Folgen der, wie er sagt, gefährlichsten Waffe: der Zunge und der Sprache. Falsche Prediger und falsche Richter sind da nur die Spitze eines Eisbergs, der unsere soziale Welt unterkühlt. „Die heißen Afterredner, die es nicht dem Wissen lassen, dass sie über andere haben, sondern fortfahren und ins Gericht greifen und, wenn sie ein Stücklein von einem anderen wissen, tragen sie es in alle Winkel, tutzeln und trauen sich, dass sie mögen eines anderen Unlust oder Vergehen rügen wie die Sau, so sich im Kot wälzen und mit dem Rüssel darin wühlen.“ Das ist das berühmte Lutherdeutsch.

 

Das „falsch Zeugnisreden“ ist deshalb so gefährlich, weil es im Geheimnisverrat, im medial und privat angeheizten Klatsch und im gezielten Ausplaudern von Informationen über andere, und seien sie noch so bruchstückhaft, in Wahrheit darum geht, sich Gottes Blick anheischig zu machen. „Sie nehmen das Gericht Gottes vorweg“. Geht der Kommentar zum 8. Gebot weiter. Eine menschliche Gesellschaft lebt davon, dass jeder einzelne Geheimnisträger bleiben darf. Die Freiheit des Individuums besteht darin, dass es eine undurchlässige Grenze gibt zwischen dem, was Ich bin und weiß, und dem, was der Rest der Welt von mir kennt.

 

Nein, für Luther steht mehr und anderes auf dem Spiel in der Welt der Gerüchte und der gezielten Taktbrüche als ein wenig Klatsch und ein paar falsche Zungenschläge in einschlägigen Journalen oder in der Teeküche. Die Idee der Individualität, die davon lebt, dass wir ein Geheimnis sind, das nur Gott lüftet und das vor aller Welt einen verborgenen Kern haben darf, lebt von dieser Regel: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden“. Falsch ist nicht nur die Lüge, sondern diese hämische Bekundung des „Ich weiß was, was Du nicht weißt und jetzt sag ich es laut.“ Luther lebt auf der Schwelle einer Medienrevolution, die er sich durchaus zu Nutze macht. Er guckt nicht mit kulturkritisch gerümpfter Nase auf den neuen Buchdruck und seine Möglichkeiten.

 

Aber er reflektiert kritisch auf die Nebenfolgen eines Mediums, das in Windeseile Nachrichten über alle Welt verstreut, geht sie sie nun an oder nicht. So werden Menschen vernichtet. Wer so agiert, der ist für Luther nicht weniger als ein „Dieb und ein Mörder“. Er ruiniert nicht nur den guten Ruf, er vergreift sich an fremder Würde und Ehre. „Denn ob du das Schwert auch nicht führest, so brauchst du doch deine giftige Zunge dem Nächsten zu Schand und Schaden.“ Luther lesen lohnt sich!

 

Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 01/2011 erschienen.


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