Volker Leppin - 1. Januar 2010 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Reformationsjubiläum

Luther 2017 – eine ökumenische Chance


Wie einfach waren frühere Reformationsfeiern: Protestanten konnten fröhlich feiern, taten dies manchmal auch im Namen der ganzen Nation – und die Katholiken schauten bestenfalls zu, schlimmstenfalls reagierten sie polemisch. So einfach ist dies im 21. Jahrhundert nicht mehr. Zu den größten Errungenschaften des vergangenen Jahrhunderts gehört die Entwicklung der Ökumenischen Bewegung, die Christinnen und Christen unterschiedlichster Herkunft ins gemeinsame Gespräch gebracht hat. Auch wenn die hochgesteckten Ziele einer Einigung lange nicht erreicht sind, auch wenn mancher eine „Ökumenische Eiszeit“ zu registrieren meint – hier handelt es sich allenfalls um eine „Kleine Eiszeit“. Denn das Niveau, auf dem man klagen darf, ist hoch.

 

Freilich: Man klagt. Während die einen 2017 allzu laut jubilieren wollen, treten die anderen auf die Begeisterungsbremse und sprechen statt von einem Reformationsjubiläum lieber von einem bloßen Gedächtnis – als gäbe es an Luther und der Reformation nur für die evangelische Seite etwas zu feiern.

 

Tatsächlich ging die Wirkung der Reformation weit über die Bildung der modernen evangelischen Konfessionen hinaus, und musste dies, weil das Anliegen Luthers ein zutiefst gemeinchristliches war: Er wollte an das Evangelium erinnern, und hat dies mit Erfolg getan. Er hat mit Macht den Gedanken Augustins ins Gedächtnis gerufen, dass der Mensch sein Heil allein der Gnade Gottes verdankt. Dass dies auch für die römisch-katholische Seite auf neue Weise in den Mittelpunkt gerückt ist, ist auch Luther zu verdanken. Darüber braucht man die bleibenden Unterschiede gar nicht zu verwischen. Der wichtigste unter ihnen ist, dass für das evangelische Bekenntnis der Mensch diese Gnade Gottes allein durch den Glauben erlangt und zu keinem darüber hinausgehenden Handeln genötigt ist.

 

Wer diese Perspektive einnimmt, kann die Reformation entspannter sehen, als es in mancher konfessioneller Engführung hier oder dort geschieht: Sie ist dann weder einfach die Zerstörung der einen Kirche durch die Kirchenspaltung noch der emphatisch zu bejubelnde Beginn der Neuzeit. Über beides ist die historisch nüchterne Forschung längst hinweg: Luthers neue Theologie war nicht der einzige Ursprung aller neuzeitlichen Entwicklungen, und sie war auch nicht mit einem Mal „da“, hat nicht mit einem Schlag das Mittelalter beendet. Luther musste lange ringen, hat sich über Jahre hinweg innerhalb der spätmittelalterlichen Frömmigkeit bewegt und noch als reifer Reformator den Anfang nicht nur bei sich und seiner reformatorischen Entdeckung gesucht, sondern bei seinem geistlichen Vater Johannes Staupitz, der mit der päpstlichen Kirche nie gebrochen hat: „Staupicius hat die doctrinam angefangen“, sagt er noch im Frühjahr 1533. So lässt sich sein neues Verständnis des Verhältnisses von Gott und Mensch nicht als radikaler Bruch verstehen, sondern als eine allmähliche Transformation von Gedanken, wie er sie in der Frömmigkeitstheologie und vor allem der Mystik des späten Mittelalters vorgefunden hat. Diese Transformation folgte eigenen Entdeckungen, manchmal halfen ihm gegnerische Angriffe zur Klärung, manchmal brachten ihn auch Freunde und Gefährten auf weitere Formulierungen.

„Tatsächlich ging die Wirkung der Reformation weit über die Bildung der modernen evangelischen Konfessionen hinaus“

Dass aus diesen theologischen Gedanken Geschichte wurde, verdankte sich einerseits einer Zuspitzung durch Luther selbst, andererseits einer glücklichen Konstellation: 1520 trat der Reformator mit dem Gedanken an die Öffentlichkeit, dass jeder Glaubende ein Priester sei und hebelte so die kirchenrechtliche Unterscheidung von Klerikern und Laien aus. Dass nicht allein die Weihe den Priester macht – auch dies konnte er schon bei Mystikern des 14. Jahrhunderts lesen. Nun aber radikalisierte er deren Gedanken: Auch durch besondere Frömmigkeit bin ich nicht Priester, sondern allein durch die Taufe. Und er richtete dies als Begründung und Appell an die Adeligen, denen er damit das Recht zur Kirchenveränderung zusprach und zugleich ein Programm vorstellte, das in vielem an Reformvorschläge des 15. Jahrhunderts anknüpfte. So bündelten sich Theologie und Reform, und Fürsten hatten einen Grund, sich an die Umsetzung zu machen – eine Umsetzung, die das Selbstverständnis des Römischen Reiches nachhaltig ändern sollte, und an deren Ende die Vielfalt der Konfessionen stand.

 

Die Entwicklung erfolgte Stück für Stück, in einem in der Rückschau immer noch rasanten, im Einzelnen aber kontinuierlich erfolgenden Prozess. Dieses Geschehen ist mit einfachen Gegensätzen von „neu“ und „alt“ schwer zu fassen – entscheidend ist die Wandlung, die Transformation, die sowohl die evangelische Frömmigkeit hervorbrachte als auch die moderne römisch-katholische Frömmigkeit, die mit der mittelalterlichen nicht einfach identisch ist. Mancher fürchtet, wenn man in dieser Weise in der Deutung der Reformation von kleinen Schritten statt von großen Schnitten spricht, würden alle Katzen grau, mancher hätte es lieber in dem einem Jubiläum angemesseneren Schwarz-Weiß – aber vielleicht kann man sich wenigstens darauf verständigen: So wird das Bild bunter.

 

Und wo ein Bild bunter wird, kann auch die Auseinandersetzung damit in der Gegenwart bunter, und das heißt vor allem: differenzierter werden. Das gezeichnete Bild macht es für die katholische Seite möglich, nachzuvollziehen, wie sie selbst auch dank der Reformation wurde, was sie ist. Und die evangelische Seite mag stärker nachempfinden, welche Abwägungen und Entscheidungen im Einzelnen nicht nur zur evangelischen Kirche geführt haben, sondern auch dazu, dass eine Kirche unter dem Papst erhalten blieb. Dann haben beide Seiten Gründe des Nachdenkens und der Freude – und können, bei allen erhaltenen Unterschieden, das Jahr 2017 auch als eine Chance nutzen, neue Schritte der ökumenischen Verständigung zu gehen.

 

Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 01/2010 erschienen.


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