Athina Lexutt - 1. Juli 2012 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Reformationsjubiläum

Das Lob der Anfechtung


»Mögen die Menschen in aller Welt von mir sagen, was sie wollen – weiß ich doch, wie übel von der Anfechtung auch die ärgsten Angefochtenen reden –, es bleibt dabei: Mir, ja mir allein und meiner Kraft haben es die Menschen zu danken, wenn sie im Glauben und durch den Glauben leben.« So hätte Erasmus von Rotterdam seine ersten Sätze formuliert, wenn er 1509 nicht das »Lob der Torheit«, sondern das Lob der Anfechtung geschrieben hätte.

 

Aber hätte er das wirklich getan? Die Anfechtung ein Loblied auf sich selbst singen lassen? Sie über all diejenigen Spott ausgießen lassen, die sich gegen sie auflehnen und sie wegdiskutieren wollen? Wohl kaum. Denn »Anfechtung« passte nicht zu einem Zeitgeist, der in satter Fortschrittsfröhlichkeit mit frecher Attitüde dem Althergebrachten die Schminke aus den Runzeln kratzte, so dass alles darunter sichtbar wurde, was man mühsam zu verdecken suchte. Die Anfechtung passte ins 16. Jahrhundert so wenig wie in unseres. Sie gehört auf die Liste der vom Aussterben bedrohten Wörter, weil von Anfechtung sich niemand mehr angefochten wissen will. Anfechtung hat mit lebendiger Kultur und kreativer Politik nichts zu tun. Ein Lob der Anfechtung heute zu schreiben fiele wohl niemandem ein. Sie gehört als Negatives überwunden. Als Schwäche besiegt. Als Misslungenes unter dem Deckmantel des Schweigens verborgen.

 

Im 16. Jahrhundert hat es jemand gewagt. Er hat ein Lob auf die Anfechtung gesungen, hat sich gegen die Tyrannei des Gelingens gestemmt, hat ihnen allen einen Ort gegeben: dem gnadenlosen Weiterfragen, der Klage, dem Leiden, der Trauer, der Ohnmacht des Glaubens. Im 16. Jahrhundert hat es jemand gewagt. Einer, den man in erinnerungskulturellem und denkmalgesättigtem Bewusstsein auf Sockel aller Art hebt und mit vielem in Verbindung bringt. Nur nicht mit Scheitern, Misslingen, Schwäche. Im 16. Jahrhundert hat es jemand gegen alle Trends und allen Zeitgeist gewagt: Martin Luther.

„Die Anfechtung passte ins 16. Jahrhundert so wenig wie in unseres.“

Was wäre nicht alles zu Luther zu sagen (und wird gesagt angesichts des nahenden Reformationsjubiläums): seine Sprachkraft, seine exegetische Erkenntnis, seine Bedeutung für die Bildung und für die Bestimmung des Verhältnisses von Politik und Religion, seine neue Rede von Gewissensfreiheit, seine Liebe zum Leben, seine Einsichten in das, was der Mensch wirklich ist – all dies und vieles mehr macht Luther zu einer großen europäischen Gestalt, der nachzudenken allemal wert ist. Seine tiefen Grundeinsichten in die Strukturen eines Menschseins, das sich als Gott und dem Nächsten gegenüber in Verantwortung stehend begreift, sind auch vielleicht gerade heute noch anregend. Selbst dort, wo es die Konsequenzen, die er aus diesen Grundeinsichten für seine Zeit gezogen hat, nicht mehr sind. Luther ist (ohne zu verkennen, dass er auch viele Schattenseiten aufzuweisen hat!) in vielerlei Hinsicht der »Gigant« und der »große Deutsche«, als den ihn uns die Medien schon lange und unermüdlich – mit Verzeichnungen und Auslassungen – präsentieren. Aber er ist auch der, der sich fragend, klagend und zweifelnd, ja verzweifelnd in seiner Klosterzelle hin- und hergeworfen hat. Der rasend und wütend gegen sich und andere mehr Tintenfässer auf den Teufel geschleudert hat, als es sich Legenden je hätten ausdenken können. Er ist auch der, der als Seelsorger genau um die quälenden und das Innerste zerwühlenden Gedanken der ihm Anvertrauten wusste, die in Sorgen und Ängsten gefangen waren. Luther ist auch der, der niemals vergessen hat, was ihn selbst in die Theologie hineingetrieben und dort immer wieder, Zeit seines Lebens, zwang, eine Spannung auszuhalten. Diese Spannung hat er als Grundgerüst menschlicher Erfahrung erkannt und ihr schließlich eine Sprache verliehen, die eben darum von einer unvergleichlichen Lebenstauglichkeit und Lebendigkeit ist. Der große Reformator ist auch der, der dafür eine Pointe gefunden hat, die ihresgleichen in der deutschen Geistesgeschichte niemals mehr erreicht hat, indem er formulierte: »Uber das wil ich dir anzeigen eine rechte weise in der Theologia zu studirn … Oratio, Meditatio, Tentatio« (WA 50, 658/29-659/4). Gebet (oratio), intensives und affektives Umgehen mit Gottes zusagendem Wort (meditatio) und schließlich die Anfechtung (tentatio) machen, so Luther, einen Theologen zum Theologen im wissenschaftlichen Diskurs. Nicht fromme Werke. Nicht durch Promotion, Vocatio oder Ordination erworbene Etiketten. Sondern Gebet, Meditation und Anfechtung.

 

Anfechtung! Anfechtung? Muss denn nicht der Theologe, zumal dann, wenn er professionell Theologie betreibt, ein Ausbund an Sicherheit sein? Einer, der sich durch nichts in Zweifel bringen lässt? Einer, der immer eine Antwort auf alles hat? Dem man in Krisenzeiten das Mikrofon unter die Nase hält, damit wenigstens der uns die uns sinnlos erscheinenden Widerfahrnisse sinnvoll reden kann? Der Sünde, Tod und Teufel und seine Gesellen und Gesellinnen niederpredigt und wegdiskutiert? Und der uns schließlich die schöne, neue Welt verheißt und uns das Paradies auf Erden malt? So einer, sagt Luther, so einer wäre kein rechter Theologe. Denn der hätte vom Kreuz Jesu Christi nichts begriffen. Der hätte nichts begriffen von dem, was Menschen umtreibt. Und was Gott zu dem macht, was er für die Menschen sein will: Retter und Erlöser. Wenn ich alles selbst machen kann, wenn ich mir in den Fitnessstudios der Macht und der Schönheit und der Sicherheit die Muskeln antrainieren kann, mit denen ich alles, wirklich alles im Leben stemmen werde – wozu dann Christus? Wozu überhaupt ein Gott? Wozu ein Gott, der uns Menschen immer wieder entgegenkommt, ja regelrecht hinterherläuft, weil er nicht will, dass wir wie die Lemminge einer nach dem anderen leeren Versprechungen in den Tod hinterher springen? Wozu? Luther beschreibt Gott als einen, der in Jesus Christus Mensch ist. Der selbst weiß, was es heißt zu zweifeln, zu fragen, Versuchungen ausgesetzt zu sein, auf Unverständnis zu stoßen, gegen Arroganz und Machtgeilheit, gegen Intoleranz und Verbohrtheit, gegen Dummheit und Falschheit, gegen Gleichgültigkeit und Resignation, gegen Lüge und Tod zu kämpfen. Luther beschreibt Gott als einen, der die Menschen so sehr liebt, dass er sie niemals loslässt. Auch und gerade dann nicht, wenn sie gegen ihn rebellieren, wenn sie ihn foltern und ans Kreuz schlagen. Luther beschreibt Gott als einen, der um die Anfechtungen weiß und dem Menschen die Hand reicht, damit der in seinen Anfechtungen nicht verloren ist und nicht untergeht. Die rechte Theologie erkennt und erfährt und lebt genau dies. Die rechte Theologie wird darum eine solche sein, die weder im Chefsessel überheblicher Selbstsicherheit noch im Schaukelstuhl frommer Selbstgenügsamkeit ein Pantoffelchristentum pflegen wird. Und die umgekehrt auch nicht in Panzern aggressiver Besserwisserei alles niederwalzen wird, was sich ihr in den Weg zu stellen wagt. Die rechte Theologie wird, weil sie um die Welt und deren Fragen und Nöte, deren Ängste und Sorgen, deren Trauer und Klage weiß, diese Welt in Politik und Kultur gestalten und den Menschen zum Leben verhelfen wollen. Luthers Lob der Anfechtung verhalf ihm im 16. Jahrhundert und verhilft uns 500 Jahre später dazu, mitten in allem Zerstörerischen und Kaputten, in allem Gewalttätigen und Tötenden, in allem Traurigen und Verzweifelten genau dies wahrzunehmen und es beim Namen nennen zu dürfen – ohne sich ihm ausliefern zu müssen und darin zugrunde zu gehen. Denn die Anfechtung »ist der Prüfestein, die leret dich nicht allein wissen und verstehen, sondern auch erfaren, wie recht, wie warhafftig, wie süsse, wie lieblich, wie mechtig, wie tröstlich Gottes wort sey, weisheit uber alle weisheit« (WA 50, 660, 1B4).

 

Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 04/2012 erschienen.


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