Michael Müller - 26. Dezember 2015 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Reformationsjubiläum

Gelebte Offenheit


Martin Luther und Berlin

L uther kam nie bis nach Berlin. Während sein Gegner Johann Tetzel noch im April 1517, wenige Monate vor dem Anschlag der Thesen an die Wittenberger Schlosskirche, in der Residenzstadt weilte, um seine Ablassbriefe zu verkaufen, war Martin Luther das Städtchen an der Spree mit seinen kaum 15.000 Einwohnern keine Reise wert.

„Dennoch wäre Berlin ohne Luther nicht Berlin.“

Dennoch wäre Berlin ohne Luther nicht Berlin. So wie er und seine Lehre das Wesen Preußens ganz maßgeblich prägten, hat er auch den Charakter Berlins und seiner Bewohner entscheidend beeinflusst, seit die Bürger von Berlin und Cölln im Februar 1539 die Räte ihrer Städte beauftragten, den Kurfürsten Joachim II. Hektor um Erlaubnis zu bitten, das Abendmahl zu Ostern nach protestantischem Ritus empfangen zu dürfen. Am 1. November 1539 besuchte der Kurfürst in der Spandauer St. Nikolai-Kirche selbst den Gottesdienst. Mit dieser demonstrativen Geste des Landesherrn galt Brandenburg mit den damals noch eigenständigen Städten Berlin und Spandau als Land der lutherischen Kirchenerneuerung.

 

Man muss nur den Namen eines Mannes nennen, des Pfarrers und Kirchenlieddichters Paul Gerhardt, um das ganze Ausmaß protestantischer Prägung zu ermessen, das Preußen und mit ihm Berlin im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges erfasste. Seine Lieder, vertont von Komponisten wie Johannes Crüger oder Johann Sebastian Bach, haben Generationen geformt und damit auch wesentlich Berlin und Preußen.

 

In vielem war dieses Preußen seiner Zeit voraus; galt lange als modernstes Staatswesen in Europa. Nicht zuletzt der Calvinismus als Hof- und Beamtenreligion und später auch der Pietismus als staatstragende Mentalität der preußischen Eliten sorgten für diese Fortschrittlichkeit, die von einer von der Staatsräson bestimmten, pragmatisch orientierten, toleranten Religions- und Einwanderungspolitik ergänzt wurde. Diese Aufgeschlossenheit und Offenheit gegenüber dem Neuen und dem Fremden gehörte zu Preußens großen Stärken und bestimmt bis heute den Charakter Berlins.
Sebastian Haffner sprach von den drei Gleichgültigkeiten Preußens, welche nicht nach Konfessionen, Nationen oder dem sozialen Rang unterschieden, sondern in erster Linie die Leistungsbereitschaft und -fähigkeit des Einzelnen beachteten. Seine Untertanen durften katholisch, protestantisch, lutherisch, calvinistisch, mosaisch oder, wenn sie wollten, auch mohammedanisch sein, konnten französischer, polnischer, holländischer, schottischer oder österreichischer Herkunft sein – sie alle wurden behandelt wie eingeborene Preußen, wenn sie ihre Pflichten gegenüber dem Staat nur erfüllten.

 

Wenn wir 2017 der 500-jährigen Geschichte der Reformation gedenken, wird man nicht umhinkommen, auch an die dunkelste Zeit der deutschen Geschichte zu erinnern, die Jahre der NS-Diktatur. Hitler ernannte Luther schon früh zum „größten deutschen Genie“ und nahm ihn zum Kronzeugen für seinen Antisemitismus. Und ohne die preußischen Tugenden wie Disziplin, Loyalität und Effizienz wären die nationalsozialistischen Verbrechen nicht denkbar gewesen. Dennoch blieb der totalitäre Machtanspruch des Nationalsozialismus den Vertretern Preußens eher fremd, der Widerstand gegen Hitler kam gerade aus alteingesessenen preußischen Familien. Vergleichsweise lange, wenn auch letztendlich erfolglos, widerstand die den Staat Preußen regierende sogenannte Weimarer Koalition aus SPD und Zentrum Hitlers Machtanspruch. Auch die Wahlergebnisse waren bei den letzten freien Wahlen für die Nationalsozialisten in Preußen weitaus ungünstiger als in anderen Teilen des Reiches, vor allem in den katholischen Gebieten Preußens und in Berlin fielen sie weit unterdurchschnittlich aus.

 

Berlins damals Regierender Bürgermeister Dietrich Stobbe schrieb 1981 im Katalog zur inzwischen legendären Preußen-Ausstellung: „Welcher Teufel mich denn geritten habe, gerade in der Vier-Mächte-Stadt Berlin Preußen wieder aktuell machen zu wollen? So haben viele kritisch gefragt, als mein Vorschlag vom Juni 1977, eine Preußen-Ausstellung in Berlin veranstalten zu lassen, eine Woge von Zustimmung auslöste. War das nicht der Beifall von der falschen Seite? Hatte ich denn ein Preußen-Revival im Sinn? Ein „spätes Gloria“ für den untergegangenen Staat? Oder einen „Griff in die Geschichte“   nach den berühmten preußischen Tugenden? Und war ich womöglich blind gegenüber dem Befremden, das ein solcher Vorschlag anrichten konnte, im Westen wie im Osten? […] Preußen ist alles andere als tot. Gewiss, der Staat Preußen existiert nicht mehr – er begann unterzugehen, als der Nationalstaat Deutsches Reich gegründet wurde; der pervertierte Nationalismus Hitlers hat ihm endgültig den Garaus gemacht. Aber das Erbe Preußens? Zeigt nicht die unsichere und hektische Reaktion auf den Vorschlag einer historischen Ausstellung, dass es weiterwirkt? Müssen wir nicht erkennen, dass nicht nur die Spaltung Deutschlands, sondern auch ihre andauernde Unüberwindbarkeit mit dem Fortwirken der europäischen Erfahrung Preußens zusammenhängt? In Berlin sind, mehr als anderswo, die Spuren Preußens im Positiven wie im Negativen sinnlich erfahrbar.“

„Heute (…) ist Berlin eine Stadt der religiösen Vielfalt, in der Menschen aus aller Welt mit oder auch ohne Glauben friedlich miteinander leben.“

Heute – 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 25 Jahre seit den Einheitsfeiern – ist Berlin eine Stadt der religiösen Vielfalt, in der Menschen aus aller Welt mit oder auch ohne Glauben friedlich miteinander leben. Eine der wichtigsten Wegmarken für einen toleranten Umgang der Bekenntnisse hat Friedrich II. gesetzt, mit seinem berühmten Satz: „Ein jeder soll nach seiner Facon selig werden.“ Er ging noch einen Schritt weiter: „Und wenn Türken und Heiden kämen und wollten das Land bevölkern, so wollen wir ihnen Moscheen und Kirchen bauen.“

 

Der saloppe Satz Friedrichs findet im heutigen Berlin täglich seine aktuelle Bestätigung. Bei mehr als 3,5 Millionen Menschen aus mehr als 180 Nationen, die in unserer Stadt leben, braucht es tatsächlich ein großes Angebot an Moscheen und Kirchen unterschiedlicher Bekenntnisse. Die Lange Nacht der Religionen in Berlin zeigt Jahr für Jahr die Vielfalt religiösen Lebens in Berlin und widerlegt so eindrucksvoll die These eines früheren Berliner Bischofs, wonach unsere Stadt „gottlos“ sei. Die Lange Nacht unterstreicht vielmehr die Ansicht von Benedikt XVI., wonach es so viele Wege zu Gott gibt, wie es Menschen gibt. Damit lässt sich übrigens auch wieder eine Brücke zu Luther schlagen, den Zeit seines Lebens die Gottsuche beschäftigt hat. Sie liefert gleichsam den Grundton allen lutherischen Denkens und ermöglicht auch dem heutigen Menschen, sich ganz individuell einem Gott zu nähern, der sich jedem einzelnen von uns stets anders zeigt. Dies macht jedem ein christliches Bekenntnis möglich, unabhängig davon, ob er eifriger Beter oder regelmäßiger Kirchgänger ist, oder nicht. Luthers Gottsuche ist also ein Zugang zur bunten Welt des Christentums.

 

Mit dem Kirchentag 2017 in Berlin und Wittenberg ehren wir das Werk des großen Reformators Martin Luther, ohne das der Lauf der Geschichte unserer Stadt eine ganz andere Bahn eingeschlagen hätte. Er hat das Werden Berlins von einer kleinen Residenzstadt zu einer Millionenmetropole entscheidend beeinflusst, den Charakter seiner Bewohner geprägt und ihren Geist verändert.


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