Wir Kinder der Reformation
Über den Folgenreichtum der Reformation
Die Reformation, auf deren 500-jähriges Jubiläum wir zugehen, war gewiss zunächst und vor allem ein einschneidendes und folgenreiches kirchengeschichtliches Ereignis. Dessen Wirkungen aber betrafen und betreffen nicht nur die Kirchen, sondern sie sind von allgemeingeschichtlicher, nämlich sowohl kulturgeschichtlicher wie national- und weltgeschichtlicher Art. Deshalb geht das Reformationsjubiläum nicht nur die Christen an, sondern auch Andersgläubige und Nichtgläubige: Wir alle, besonders in Deutschland aber auch in Europa und in vielen Teilen der Welt, sind Kinder der Reformation.
Wie wäre unsere Geschichte verlaufen, wie lebten wir ohne den Beitrag Luthers zur Entwicklung der deutschen Sprache, ohne die Kultur des evangelischen Pfarrhauses, ohne den Beitrag der protestantischen Ethik zur Lebens- und Wirtschaftsordnung unserer Gesellschaft! Die Reformation hat unsere Nationalgeschichte geprägt wie kein anderes Ereignis vor dem 20. Jahrhundert: Sie war Ursache von bitteren Konfessionskriegen, von lange anhaltender konfessioneller Spaltung nicht nur in Deutschland. Religiös-kulturelle Differenzierung und Pluralität gehören zum besonderen Charakter Europas. Individualisierung, Wertschätzung der Person, Freiheit und Toleranz – deren Geschichte hat durchaus mit der Reformation zu tun.
Das Reformationsjubiläum geht „nicht nur die Christen an, sondern auch Andersgläubige und Nichtgläubige“
Auch die Unterscheidung von Politik und Religion, die Trennung von Staat und Kirche – uns heute einigermaßen selbstverständlich – sind Ergebnis einer langen widersprüchlichen Entwicklung seit der Reformation, eines Prozesses der Individualisierung von Religion einerseits und der Säkularisierung des Gesellschaftlichen, des Politischen andererseits. Angesichts des Folgenreichtums der Reformation darf trotzdem nicht vergessen oder verdrängt werden, dass sie ein vor allem religiös verursachtes und bestimmtes Ereignis war. Zunächst ein Protest – gegen Ablasshandel, gegen das Papsttum. Sodann die Neubegründung christlicher Religion – sola scriptura, sola gratia, sola fide. Was Luther mit dieser Wendung gelingt, bezeichnet Heinz Schilling als »Re-Implantation von Religion und Glauben in den europäischen Prozess der Zivilisation«. Luther wurde so »Garant neuzeitlicher Religiosität«. Die Reformation mit ihren Folgen hat schließlich auch die katholische Kirche erheblich verändert. Die von dem Charismatiker Luther in Gang gesetzte umgreifende Bewegung geriet in den nachfolgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten – unter dem Zwang ihrer Selbstbehauptung und Institutionalisierung – in die Fänge politischer Mächte: Fürsten wurden schnell zu »Not-Bischöfen« und zu Schutzherren, die evangelische Verquickung von Thron und Altar, obrigkeitliche Fixierung waren problematische Folgen. Zum Reformationsjubiläum muss deshalb die kritische Beschäftigung mit den Widersprüchen der Kirchengeschichte seitdem gehören, auch die Entmythologisierung der Person Luthers, d. h. die Befreiung von seiner Idolisierung im 19. Jahrhundert, seiner preußisch-deutschen Indienstnahme als Nationalheiligen.
„Die Reformation, das war nicht nur Luther.“
Und überhaupt: Die Reformation, das war nicht nur Luther. Sie war vielmehr ein vielgestaltiger, internationaler Prozess mit höchst unterschiedlichen Personen und Erscheinungsformen (von Hus über Calvin und Zwingli …). Reden wir also von Reformationen und gewinnen einen internationalen Blick! Und machen wir aus dem Jubiläum ein ökumenisches Ereignis – dann hätte es zukunftsgerichteten Sinn! Ohne neue ökumenische Leidenschaft geriete das Jubiläum bloß zur apologetischen Pflege des Eigenen, des Besonderen, des Unterscheidenden. Protestantische Selbstbestätigung und Selbstermunterung – das soll ja durchaus sein. Aber reicht das? Ich glaube nicht!
Über die Einladung an die anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften hinaus könnte und sollte das Jubiläum für die pluralistische Gesellschaft insgesamt von Interesse sein: Die Kirchen haben seit der Reformation einen – wie ich meine, geradezu paradigmatischen – mühevollen Erfahrungsprozess, eine bittere Lerngeschichte in Sachen Toleranz und Freiheit hinter sich gebracht. Nämlich zu lernen, auf politische Macht oder gar auf Gewalt zu verzichten zur Durchsetzung des eigenen Wahrheitsanspruchs, sich des Missbrauchs zur Begründung von Gewalt zu erwehren und ihm energisch zu widersprechen – ohne gänzlich an Leidenschaft, an Überzeugungskraft zu verlieren und eine »lauwarme Religion« werden zu müssen. An diese Lerngeschichte zu erinnern und heute zu zeigen, ja zu beweisen, dass und wie Religionsfreiheit praktisch gelebt werden können – das, meine und hoff e ich, ist der Sinn des Reformationsjubiläums. Und genau dies macht dieses Jubiläum dann wichtig – für die ganze Gesellschaft!
Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 03/2014 erschienen.
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