Wolfgang Huber - 1. März 2012 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Reformationsjubiläum

Die Ambivalenz des Reformators


In der Lutherdekade, die auf das Reformationsjubiläum des Jahres 2017 hinführt, war das Jahr 2011 dem Thema „Reformation und Freiheit“ gewidmet. Wie zentral dieses Thema für Luther war, geht bündig aus seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ (1520) hervor. Deren berühmte Doppelthese lautet: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Die Freiheit des Glaubens und die Liebe zum Nächsten sind in diesen beiden Sätzen aufs engste miteinander verknüpft. Die Befreiung aus den Verkehrungen des menschlichen Daseins und die Befreiung zu einem verantwortlichen Leben gehören zusammen; „Freiheit von …“ und „Freiheit zu …“ bilden eine Einheit. Entscheidend am Erbe der Reformation ist die Lebensform verantworteter Freiheit.

 

Die Lutherdekade ist kein Jubeljahrzehnt. Gerade, wer den reformatorischen Aufbruch als einen Aufbruch zur Freiheit versteht, wird Schatten und Grenzen der Person Martin Luthers wie der Reformation insgesamt nicht aussparen. Wie tief Luthers Empfindungen mit der mittelalterlichen Welt verbunden blieben, braucht nicht verschwiegen zu werden. Dass es Phasen in seinem Leben gab, in denen er hinter jedem Busch einen Teufel witterte, wirkt auf uns Heutige befremdlich – auch wenn unser manchmal reichlich harmloses und oft genug nur vermeintlich aufgeklärtes Weltbild zu Rückfragen Anlass gibt.

„Die Lutherdekade ist kein Jubeljahrzehnt.“

Luthers mitunter polemischer Charakter, seine ambivalente Rolle in den Bauernkriegen, seine beschämenden Aussagen zu den Juden und sein Kommentar zu den Expansionsbestrebungen des Osmanischen Reichs – all dies gehört in das Bild seiner Person hinein. Gesundheitliche Belastungen trugen zu seinem manchmal aufbrausenden Wesen bei. Wir reden von einem Menschen mit seinem Widerspruch. Vergangene Jubiläumsfeiern für Martin Luther wie für die Reformation haben diese Ambivalenz mitunter verdrängt.

 

Zurückliegende Jubiläen können auch als Lehrstunden dafür dienen, wie Luther für das „nationale Erbe“ vereinnahmt wurde. So sehr wir Luthers Beitrag zur deutschen Kultur, insbesondere die Prägekraft, mit der er die deutsche Sprache gestaltete, würdigen, so wenig Anlass haben wir, die Überlegenheitsgesten zu wiederholen, mit denen Martin Luther und ein vermeintliches „deutsches Wesen“ zusammengebracht wurden. Deutsche im Inland wie auch im Ausland wurden unter Berufung auf Luther lange Zeit dazu verführt, Patriotismus und Nationalismus miteinander zu verwechseln.

 

All das wird im Blick sein, wenn auf dem Weg zum Jahr 1517 nicht nur Leben und Theologie Martin Luthers, sondern die Reformation und ihre Wirkungsgeschichte insgesamt verstärkt in den Blick treten. Dabei wird es vor allem darum gehen, die Bedeutung zu entfalten, die der reformatorischen Entdeckung der Freiheit für Gegenwart und Zukunft zukommt.

 

Kulturell hat die Reformation vor allem deshalb gewirkt, weil sie eine Bildungsbewegung war. Jeder sollte einen eigenen Zugang zum biblischen Wort haben; schon deshalb musste dem verbreiteten Analphabetismus ein Ende gemacht werden. Eine gemeinsame Sprache war dafür nötig; deshalb hat Luthers Bibelübersetzung tief auf die Entwicklung der deutschen Sprache eingewirkt. In der reformatorischen Tradition ist Bildung eine der Folgen der christlichen Freiheit. Philipp Melanchthon gab für diese Bildung eine klare Parole aus: „Wähle dir vom Besten das Beste aus, und zwar, was zur Kenntnis der Natur und zur Bildung des Charakters beiträgt. Vor allem ist hierbei die griechische Bildung vonnöten, die die gesamte Naturwissenschaft umfasst, um über die Ethik sachkundig und gewandt sprechen zu können.“

„Vergangene Jubiläumsfeiern für Martin Luther wie für die Reformation haben diese Ambivalenz mitunter verdrängt.“

Ich zitiere diese Worte, weil sie zeigen, wie sich die Reformation in die europäische Bildungsgeschichte eingezeichnet hat. Europa in seiner durch Antike und Christentum geprägten Gestalt und eine Bildung, die diese Gestalt erschließt, gehören zusammen. „Beste Bildung für alle“ ist der Impuls der Reformation. „Beste Bildung für alle“, ob Migranten- oder Einzelkind, ob mit Behinderungen oder hochbegabt – das ist die Herausforderung unserer Zeit. Mündige Christen treten für die Bildung mündiger Bürger ein. Bildungschancen können deshalb nicht nach der sozialen Herkunft verteilt werden; überkommene Strukturen dürfen den freien Zugang zur „besten Bildung für alle“ nicht behindern.

 

Von vergleichbarer Bedeutung ist der Einfluss der Reformation auf die Kultur des Zusammenlebens. Sie entwarf das Bild einer christlichen Gemeinschaft, die sich ohne geistliche Standesunterschiede Gott zuwenden und priesterlich füreinander eintreten. Kein Stand zeichnet sich vor den anderen durch eine besondere Weihe oder ein besonderes Gelübde aus; deshalb ist die Übernahme jeder ethisch zu verantwortenden weltlichen Aufgabe zugleich eine „Berufung“ im geistlichen Sinn.

 

Hier liegt der Ursprung der neuzeitlichen Vorstellung vom Beruf. Auch die Prägung dieses Worts geht auf Luther zurück. Mit ihm vollzieht sich eine unerhörte Aufwertung des Diesseits; denn der weltliche Beruf gilt nun als wichtiger Bewährungsraum des Glaubens. Diese Auffassung vom Beruf hat die moderne Welt, gerade auch das Feld wirtschaftlicher Verantwortung geprägt. Nicht nur auf Calvin, sondern auch auf Luther muss man achten, wenn man den reformatorischen Wurzeln der modernen Wirtschaftsweise nachgehen will. Der Gedanke der geistlichen Gleichheit vor Gott wurde zugleich zu einer entscheidenden Triebkraft auf dem Weg zur Demokratie, die sich in protestantisch geprägten Staaten wie den Niederlanden und der Schweiz, aber auch in Großbritannien und den USA die Bahn brach.

 

Die kulturellen Wirkungen der Reformation, des Aufbruchs zur Freiheit, reichen tief hinein in die politische Kultur unserer Zeit. Es ist deshalb eine wichtige Aufgabe der Lutherdekade, das kulturelle Gedächtnis zu stärken und unserem kulturellen Bewusstsein das nötige Maß an historischer Tiefenschärfe zu verleihen.

 

Der Text ist zuerst in Politik & Kultur 02/2012 erschienen.


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