Annegret Kramp-Karrenbauer - 2. Juli 2018 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Politische Bildung

Demokratie braucht Demokraten


Volkshochschulen als demokratische Orte des Lernens

Wenn über das Scheitern der Weimarer Republik gesprochen wird, dann hat eine Begründung hierfür eine gewisse Berühmtheit erlangt: Weimar sei nicht an seiner Verfassung gescheitert, sondern am Mangel an Demokraten. Ähnliches drückt der weltberühmte Satz von John F. Kennedy aus: „Frage nicht, was Dein Land für Dich tun kann; frage, was Du für Dein Land tun kannst.“ Und auf einem Festakt der Bürgerbewegung „Pulse of Europe“ in der Frankfurter Paulskirche vor wenigen Wochen sagte Hansjörg Schmitt, einer der Mitbegründer dieser so wertvollen Bewegung: „Demokratien scheitern nicht an ihren Rändern; sie scheitern an der Gleichgültigkeit der Demokraten.“ Ja, Demokratie braucht Demokraten; Demokratie braucht Engagement; Demokratie braucht täglichen Einsatz. Wir haben uns in der westlichen Welt vielleicht zu sehr daran gewöhnt, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ein Leben in Freiheit gewährleisten. Aber allzu oft wird dabei vergessen: Es reicht nicht aus, wenn Demokratie in einer Verfassung niedergeschrieben ist. So lange eine demokratische Verfassung nicht mit Leben gefüllt wird – von den staatlichen Institutionen genauso wie von jeder einzelnen Bürgerin und jedem einzelnen Bürger –, ist diese Verfassung einfach nur beschriebenes Papier.

 

Das ist der Auftrag an Demokratinnen und Demokraten: unsere Verfassung, unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung jeden Tag aufs Neue mit Leben füllen. Das ist der Auftrag, dem sich auch die Volkshochschulen in Deutschland verpflichtet haben – von Beginn an. Im kommenden Jahr feiern wir bundesweit den 100. Geburtstag der Volkshochschulen. Wir erinnern daran, dass die Förderung der Volks- und Erwachsenenbildung in der Weimarer Reichsverfassung verankert wurde. Die daraus resultierende Gründungswelle von Volkshochschulen ist Beleg ihrer engen Verknüpfung mit der Entstehung der Weimarer Republik und macht die Volkshochschulen zu Töchtern der ersten deutschen Demokratie. In den Volkshochschulen lebte von Beginn an die Erkenntnis: Demokratie braucht Demokraten. Und Demokraten fallen nicht vom Himmel. Dafür braucht es demokratische Orte des Lernens. Deshalb waren in der Weimarer Republik Veranstaltungen zur gesellschaftlich-politischen Bildung im Sinne der Demokratisierung in den Programmen der Volkshochschulen prominent vertreten.

 

Der Angriff des Nationalsozialismus auf die junge deutsche Demokratie machte auch vor den Volkshochschulen nicht halt. Sie wurden entweder geschlossen oder in „Volksbildungswerke“ umbenannt und gleichgeschaltet. Damit bewiesen die Nationalsozialisten, dass sie den Wert demokratischer Erziehung richtig einschätzten – eine solche Erziehung war eine Gefahr für die eigene menschenverachtende Ideologie.

 

Umso wichtiger war den Alliierten nach 1945 im Zuge der Re-Education bzw. Educational-Reconstruction der Wiederaufbau eines demokratischen Bildungssystems, in dem der Erwachsenenbildung eine wichtige Rolle beigemessen wurde. Bereits Ende 1945 wurden viele Volkshochschulen neu gegründet oder wiedereröffnet. Neben sehr pragmatischen, berufsfördernden Angeboten übernahmen sie auch die Aufgabe, politische Orientierung zu vermitteln. Getragen waren diese Initiativen von dem Willen, die Bürgerinnen und Bürger in demokratische Prozesse einzubeziehen und sie damit für den demokratischen Neuanfang zu gewinnen. So war das Motto, unter dem beispielsweise die Volkshochschule in Ulm im Jahr 1946 ihre Arbeit aufnahm, Programm – es lautete: „Einmischung erwünscht“. Darum ging es unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Und darum geht es auch heute noch.

 

Die Volkshochschulen stehen in einer langen Tradition, die demokratische Bildung, die die „Einmischung“ jedes Einzelnen, die das tägliche demokratische Ringen um gute Lösungen zum Leitbild einer Erwachsenenbildung erklärt, die dem Gemeinwohl dient und unsere freiheitliche Grundordnung mit Leben füllt. Vier Grundideen möchte ich skizzieren, die für die Arbeit der Volkshochschulen bis heute leitend sind:

 

Erstens: Volkshochschulen sind geeignete Orte, um in der Kommune Diskussions- und Dialogprozesse anzuregen und diese zu moderieren. Sie sind Orte der Begegnung direkt vor Ort: in unseren Städten, Landkreisen und Gemeinden. Demokratie lebt davon, dass Menschen miteinander im Austausch sind, dass sie auch bei unterschiedlichen Meinungen im Gespräch sind. Demokratie funktioniert nicht in einem Gegeneinander, auch nicht in einem Nebeneinander. Deshalb braucht es Orte, an denen Menschen mit ganz unterschiedlichen Auffassungen, Prägungen und Hintergründen zusammenkommen können. Die Volkshochschulen wollen solche Orte sein.

Hier soll es kontroverse Diskussionen geben, hier sollen gemeinsame Ideen entwickelt werden. Dabei geht es für die Volkshochschulen nicht darum, Partei zu ergreifen, sondern darum, Menschen zu befähigen, sich eine Meinung zu bilden, eigene Interessen zu formulieren und diese umzusetzen.

 

Zweitens: Volkshochschulen widmen sich selbstverständlich dem theoretischen Erkenntnisprozess. Aber genauso verstehen sich Volkshochschulen als Einrichtungen, die zum Handeln, zum Engagement und zum Einmischen motivieren. Volkshochschulen unterstützen und begleiten Menschen, die sich zivilgesellschaftlich engagieren, und qualifizieren für ehrenamtliche Tätigkeiten; das alles nicht auf irgendeiner abstrakten Ebene, sondern ganz konkret vor Ort.

Drittens: Volkshochschulen sind offen für alle Bürgerinnen und Bürger, die sich einbringen wollen. Sie richten sich nicht an einen exklusiven Adressatenkreis. Die grundsätzliche Offenheit für Menschen aller sozialen Schichten und Einkommensgruppen, aller Milieus und Kulturen, für Menschen mit unterschiedlichen persönlichen Voraussetzungen und Meinungen ist wesentliches Merkmal der Arbeit der Volkshochschulen. Damit folgen sie dem demokratischen Anspruch, dass jeder als Bürger gleich viel zählt.

 

Viertens: Volkshochschulen sind Orte für den öffentlichen Austausch und auch für Gespräche mit politischen Entscheidungsträgern. Mit diesem Anspruch wenden sich Volkshochschulen auch bewusst an die Öffentlichkeit, sie verstehen sich damit auch als Träger öffentlicher Debatten. Beispielhaft dafür stehen Bürgerdialoge, die in den vergangenen Jahren oftmals bundesweit koordiniert und im ganzen Land angeboten wurden. Aktuell bringen sich die Volkshochschulen in den europaweiten Bürgerdialog zur Zukunft Europas ein, der unter dem Motto „Sprechen wir über Europa“ bis zum Herbst 2018 stattfindet. Dabei laden Volkshochschulen als Partner der Bundesregierung in den kommenden Monaten Bürgerinnen und Bürger ein, sich auf der lokalen Ebene über die Zukunft Europas auszutauschen, eigene Erwartungen zu formulieren und Ideen einzubringen. Die Volkshochschulen verstehen sich dabei als Vermittler und Moderator zwischen Bürgern und Politik.

 

So leitend und traditionsbildend diese vier Grundideen sind, so klar ist auch: Politische Bildungsarbeit an Volkshochschulen ist einem ständigen Wandel unterworfen, sie ist immer in Bewegung und muss auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen reagieren. So bilden beispielsweise derzeit Themen wie der Klimawandel oder die gesellschaftspolitische Dimension der Digitalisierung einen Schwerpunkt des Programmbereichs Politik und Gesellschaft. Verstärkt gehört auch die Beschäftigung mit den globalen Zielen für nachhaltige Entwicklung, den sogenannten Sustainable Development Goals, und den damit verbundenen Themen wie Armut, Welternährung, globale Gerechtigkeit, Frieden und Menschenrechte dazu. In einer globalisierten Welt ist klar: Demokratische Bildung kann nicht an den eigenen Grenzen enden, es braucht zur Gestaltung einer guten Zukunft einen globalen Blick über die nationalen und europäischen Grenzen hinaus.

 

Volkshochschulen kooperieren dabei mit Universitäten, Nichtregierungsorganisationen oder lokalen Vereinen und Initiativen, um Bürgerinnen und Bürger mit Experten und politischen Entscheidungsträgern ins Gespräch zu bringen.

 

Ein besonderer Auftrag demokratischer Bildung ist für die Volkshochschulen in den vergangenen Jahren durch die vielen Menschen hinzugekommen, die aus welchen Gründen auch immer nach Deutschland zugewandert sind. Als Orte der Integration und der Wertevermittlung leisten die Volkshochschulen einen unschätzbaren Beitrag. Integration und Zusammenhalt können nur dann erfolgreich sein, wenn demokratische Regeln und gemeinsame Werte auf dem Boden unseres Grundgesetzes den Bezugspunkt für das Miteinander in unserem Land bilden.

 

Volkshochschulen als demokratische Orte des Lernens sind heute wichtiger denn je. In Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche und ausdifferenzierter Milieus, in Zeiten technologischen Fortschritts und kommunikativer Umwälzungen durch die sozialen Medien, in Zeiten einer immer weiter zusammenwachsenden Welt und neuer Herausforderungen demokratischer Gesellschaften braucht es mehr denn je Orte, die mit lebensbegleitender Bildung zur demokratischen Gestaltung unserer Gesellschaft beitragen. Dies ist der bleibende Auftrag der Volkshochschulen: Demokraten stärken, um die Demokratie zu stärken.

 

Der Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2018.


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