Uwe Koch - 27. November 2018 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Nachhaltigkeit & Kultur

Sharing Heritage


Die Kultur des miteinander Teilens

Während der Eröffnung des Europäischen Kulturerbejahres 2018 in Mailand hat ein Referent aus Griechenland das bekannte griechische „Nationalgericht“ Moussaka und dessen Herkunft thematisiert. Dabei wurde zur Überraschung der Zuhörer in anschaulicher Weise das Moussaka seiner nationalen Identität beraubt. Denn es steht für Einflüsse aus der türkischen, arabischen, französischen und italienischen Küche.

 

Ein anschauliches Beispiel für kulturellen Transfer in Europa und für die Tatsache, dass alle unsere Kulturräume das Ergebnis einer Vielzahl kultureller Verflechtungen sind.

 

Unseren Kontinent durchziehen seit Jahrtausenden Austauschwege. Am häufigsten werden diese Verflechtungen durch den Handel mit Waren bedingt, die vielfältige andere Formen des Austauschs mit sich brachten.

 

Zwei Beispiele mögen das erläutern:
Flandern wurde lange Zeit als „Marktplatz aller Länder der Christenheit bezeichnet“. Genuesische, venezianische, florentinische, spanische, französische Kaufleute waren dort genauso präsent wie die Koggen der „Osterlinge“, die Engländer, Schotten, Iren, Holländer und Friesen. Ja mehr noch. Selbst Waren des Orients, der Baltischen Länder und Russlands prägten den Austausch über enorme Distanzen.

 

Mit den Waren gelangte die Malerei und die Baukunst Flanderns als Vorbild und selbst als Ware weit in den Ostseeraum. Adaption und selektive Aneignung folgten. So sind. z. B. viele Repräsentationsgebäude in der gesamten Ostseeregion von der flämischen Renaissance geprägt.
Ein anderer Fall aus dem Ostseeraum: Gotlands Taufsteine des 12. Jahrhunderts. Sie zeugen von der Blüte der Steinmetzkunst des 12. Jahrhunderts. Als solche waren sie im Ostseeraum begehrt und wurden für viele Kirchen bestellt. Sie zeugen in ihrer bildlichen und motivischen Vielfalt von kulturellen Einflüssen, die einerseits nach Westeuropa und andererseits über Russland bis nach Byzanz weisen. Fernhandelsbeziehungen der frühen Hanse bildeten die Grundlage. Deutlich wird, dass kultureller Austausch Europa prägte und prägt, es bereicherte und bis heute bereichert, eine große Vielfalt erzeugte, die den eigentlichen Reichtum Europas ausmacht.

 

Eine Zäsur im Verständnis unserer kulturellen Prägungen stellte das 19. Jahrhundert dar, in dem Nationalismen Einzug hielten und suggerierten, dass man sich von fremden Einflüssen befreien müsse.

 

Die Bildung nationaler Identitäten ging vielfach mit kultureller Abgrenzung von Nachbarn einher, die sich eigentlich kulturell stets nah waren und einander befruchteten.

 

Abgrenzung wurde häufig zur Grundlage der nationalen kulturellen und gleichsam nationalen Identitätsbildung.

 

Im 19. Jahrhundert wurde beispielsweise unter preußischer Regie flugs die Gotik zum „nationalen Stil“ erklärt. Gegenüber dem klassischen antiken Stil, der sich noch in Bauten wie dem Alten Museum Schinkels als Hymne auf die antiken Traditionslinien präsentierte, wurde die Gotik immer stärker propagiert. Das „Fertigbauen“ gotischer Dome wurde gleichsam zur nationalen Aufgabe, der Kölner Dom und das Engagement des Kaisers um den Kirchenbau legen beredtes Zeugnis davon ab. Die Fertigstellung erfolgte bis 1880, in einer Zeit nationalen Aufbruchs mit dem Ziel der Reichseinigung durch „Blut und Eisen“. Da kam zur Mobilisierung der Massen die kulturelle Abgrenzung insbesondere Frankreichs gerade recht.

 

Das ist jedoch keineswegs ein deutsches Phänomen, überall in Europa wurde dieser Weg beschritten. Pathetische Inszenierungen nationaler Identität und kultureller Größe in Gemälden, Repräsentationsbauten, Denkmälern prägen das 19. und frühe 20. Jahrhundert und damit die Identität ganzer Generationen. Die Folgen kennen wir: Nationalpathetische Emotionalisierung führte direkt zu gewaltigen Kriegen und Konflikten. Millionen Menschen verloren ihr Leben, unzählige Kulturgüter wurden zerstört. Es folgen 1918 und 1945 mühsam errungene Friedensschlüsse, Grenzveränderungen und die Bildung neuer Staaten.

 

Das heutige Europa ist als Konsequenz der verheerenden Zerstörungen zweier Weltkriege auf der Basis wirtschaftlicher Zusammenarbeit zu einem Kontinent friedlicher Kooperationen gewachsen. Die Europäische Union ist zu einem in der europäischen Geschichte einzigartigen großen Friedensprojekt geworden. Das ist der großartige Gewinn unserer Zeit! 2012 erfolgte völlig zu Recht die Auszeichnung der EU mit dem Friedensnobelpreis. Das ist die entscheidende Konsequenz aus der bisherigen europäischen Geschichte, die Chance und Aufgabe für die Zukunft bedeutet.

 

In der Folge vielfältiger Grenzveränderungen in der europäischen Geschichte sind heute in den von nationalen Grenzen umschlossenen Räumen kulturelle Zeugnisse zu entdecken, die unterschiedlichster historischer sowie kulturell-ethnischer Prägung sind und die sich einseitiger nationaler Zuordnung entziehen. Die heutige kulturelle Vielfalt Europas entzieht sich zumeist Erklärmustern, die sich an nationalstaatlichen Grenzen orientieren.

 

Brennpunkte oder Schmelztiegel verschiedener kultureller Prägungen finden sich besonders markant in einigen größeren Städten. Drei beispielhaft genannte Städte mögen genügen: Lemberg/Lwow, Triest, Breslau/Wroclaw. Diese Städte sind von kulturellem Reichtum, die von verschiedenen kulturellen Berührungen und Begegnungen zeugen, weil sie über Jahrhunderte hinweg an Wegen des Austauschs und der Begegnung lagen und davon profitierten. Denkmäler, Bauten, Sammlungen, Musik, Theater und Literatur zeigen die gegenseitige Durchdringung, Beeinflussung, Stimulanz, Faszination und auch Konflikte. Auch die Bemühungen um kulturelle Heraushebung und Abgrenzung bis hin zu Gegnerschaft und Erniedrigung des Nachbarn haben dort und an anderen Orten ihre Spuren hinterlassen. Auch sie gehören dazu und sind wertvoll, um den weiten und mitunter schmerzhaften Weg zu einem friedlichen Miteinander nachvollziehbar zu machen.

 

Das kulturelle Erbe ist wie ein großes Lehrbuch, ein Freilichtmuseum unserer europäischen Geschichte. Darin zu entdecken, zu lesen ist keineswegs nur im rückblickenden historischen Kontext von Interesse. Es ist von eminent hoher Bedeutung für die Befähigung zum Zusammenleben und gemeinsamen Gestalten der Zukunft in Europa. Dabei ist dieses Erbe von noch größerem Wert für uns heute, wenn das Verbindende in der kulturellen Vielfalt Europas zum Leitmotiv gemacht werden kann. Das stellt den signifikanten Unterschied zu früheren Ansätzen dar. Nicht das Abgrenzen, sondern das Verbinden muss uns antreiben! Dabei geht es nicht darum, eine vermeintliche europäische kulturelle Einheitsidentität zu konstruieren, sondern in der Vielfalt des lokalen, regionalen und auch national Verschiedenen auf der Basis des europäisch Zusammenhängenden das uns alle Verbindende zu entdecken und zu leben.

 

Das schließt nicht nur das Entdecken und Vermitteln von kulturellem Erbe oder auch das Erinnern ein, sondern das gemeinsame Tragen von Verantwortung für Erhalt und Vermittlung des Kulturerbes, so z. B. in Grenz- und kulturellen Begegnungsräumen. Wir merken gerade in aktuellen Debatten mitunter an der Erinnerungskultur, wie unterschiedlich das Erinnern gelebt und verstanden wird. Das Bemühen, die andere Perspektive verständlich zu machen, hat auch etwas Verbindendes.
Genau diesem Ansatz folgte der Vorschlag zur Durchführung eines Europäischen Kulturerbejahres im Jahr 2018! Genau diesem Ansatz folgt auch das in Deutschland verwendete Motto „Sharing Heritage – Werde Teil und teile“! Es ist eine freundliche Einladung, eine Aufforderung zum Mitmachen, zur breiten gesellschaftlichen Teilhabe und zum europäischen wie nachbarschaftlichen Miteinander. Dabei richtet sich dieses Motto keineswegs nur auf die nachbarschaftlichen oder europäischen Dimensionen, sondern natürlich auch auf die Herausforderungen, die sich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt innerhalb des Landes ergeben. Der kulturelle Reichtum bietet uns viel mehr Basis auch für den interkulturellen Dialog. Hierfür bedarf es jedoch noch besserer Konzepte und Ressourcen, um dies nutzbar zu machen.

 

Dabei stellen sich durchaus etliche Fragen, die keinesfalls einfach zu beantworten sind: Was ist gemeinsame kulturelle Identität in einer Gesellschaft, was macht diese aus und wie verändert sie sich? Brauchen wir diese? Wie verhält sie sich zu anderen kulturellen Identitäten? Wie findet die Aneignung des kulturellen Erbes Europas durch seine Bürger statt, wie kann ich sie befördern? Wie kann das stärker miteinander geschehen und damit verbindend wirken? Steht eine europäische Identifikation im Gegensatz zu dem Bedürfnis nach stärkerer lokaler oder regionaler Identifikation und Verortung?

 

Neuerdings erfährt der Begriff „Heimat“ eine vielfältige und zum Teil fragwürdige Renaissance. Während es für viele Bewohner unseres Kontinents längst selbstverständlich ist, Europa als Heimat zu empfinden, liegt dies vielen fern. Sie suchen die Heimat eher im Lokalen oder Regionalen. Schließen sich diese unterschiedlichen Folgen globaler Entwicklung aus? Welche Brücken sind hier gangbar? Das sind interessante und wichtige Fragen, die es lohnt zu reflektieren und über 2018 hinaus zu erörtern. Das A und O sind meines Erachtens die bewusste Aneignung, Bewahrung und Vermittlung des Kulturerbes und der Dialog zum Kulturerbe.

 

Nun, da das Europäische Kulturerbejahr seit einem halben Jahr stattfindet, lässt sich sagen: Wir können hier schon viele vielversprechende Entwicklungen und tolle Projekte registrieren! „Sharing Heritage“ wird dabei nicht von einigen wenigen Großveranstaltungen, sondern von vielen und ganz unterschiedlichen Aktivitäten geprägt. Bereits weit mehr als 250 Projekte haben sich als offizielle Beträge zum Europäischen Kulturerbejahr in Deutschland registriert. Insgesamt könnten es über 500 werden. Im Zentrum stehen immer das kulturelle Erbe, das Denkmal, das historische Objekt, der authentische Erinnerungsort und die Menschen, die in der Geschichte und in der Gegenwart verbunden waren bzw. sind. Ausstellungen, Schülerwettbewerbe, Musikfestivals – so vielfältig wie die Formate es sind, ist auch das Engagement hinter dem Kulturerbejahr. Das Jahr trägt sich zu einem erheblichen Teil über die breite Begeisterung für die Thematik. Eine große Zahl an Aktivitäten wird durch kleinere Kultureinrichtungen, die Zivilgesellschaft und private Einrichtungen initiiert. Die allermeisten dieser Veranstaltungen kommen dabei ohne eine gesonderte staatliche Förderung aus. EU, Bund, Länder und Kommunen engagieren sich aber auch finanziell. Mitmachen geht ganz einfach: Projekte, die einen klaren Europabezug aufweisen und sich inhaltlich an den Leitthemen orientieren, können sich auf www.sharingheritage.de registrieren.

 

Wir sind sehr gespannt, wie wir am Jahresende 2018 bilanzieren können und insbesondere ob wir es schaffen, bestimmte Formate oder inhaltliche Ansätze, wie z. B. die Angebote an Jugendliche, zu verstetigen, denn „Sharing Heritage“ soll weitergehen. In Zukunft sollte es vielmehr um die Frage gehen: Wie finden Gesellschaft, Kultur und Europaidee wieder zusammen?

 

Ich glaube, dass Europa nur durch eine intensivere und bewusstere Aneignung seiner kulturellen und geschichtlichen Entwicklungen und Erfahrungen möglich wird. Dieses erfordert auch ein stärkeres „Sharing“ in Europa und neue auf bestehenden Formaten aufbauende Initiativen.

 

So wie schon 2018 junge Menschen aus ganz Europa nach Osnabrück und Münster an die Orte des Westfälischen Friedens, der 1648 den ersten europäischen Krieg beendete, eingeladen werden, um am historischen Ort über Wege zum Frieden miteinander zu reden und sich Geschichte gemeinsam anzueignen, so könnte ich mir vorstellen, dass dies zukünftig noch stärker in Vernetzung und Ertüchtigung historischer europäischer Erinnerungsorte erfolgt. So könnte die Geschichte des Westfälischen Friedens zukünftig in einer Kooperation mit einer Erzählung auf der Prager Burg zum Fenstersturz von 1618 verknüpft werden. Historische Kultur- und Transferlandschaften, wie die Donau oder die Alpen, bieten uns Entdeckungs- und Erzählräume, nutzen wir sie in Zukunft besser, um unseren kulturellen Reichtum als Ergebnis von Jahrtausenden des Austauschs und der Begegnung verständlich zu machen und uns in Europa mehr zueinander zu bringen.

 

Eine solche Kultur des miteinander Bewahrens und Teilens unseres kulturellen Erbes befördert nicht nur den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Kontext nationaler Grenzen, sondern im europäischen Kontext.

 

Moussaka und andere Köstlichkeiten schmecken vielleicht noch einmal so gut, wenn wir sie miteinander im Sinne einer Kultur des Teilens genießen und uns dabei entspannt darüber im Klaren werden, wieviel uns in Europa verbindet!

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 4/2018.


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