Mojib Latif und Andreas Huber - 1. April 2022 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Klima & Kultur

Von der Notwendigkeit einer kulturellen Revolution


Der Club of Rome Deutschland stellt 24 neue Fragen

Was wissen Sie darüber, was passieren wird, wenn Sie einen Ball in die Luft werfen? Sie wissen, er wird nach oben steigen. Und Sie wissen, er wird irgendwann aufhören zu steigen und beginnen zu fallen. Sie wissen, dass der Ball weder unendlich steigen wird, noch, dass er um die Erde fliegen wird. Das, was sie über einen hochgeworfenen Ball wissen, ist die grundsätzliche Verhaltensweise eines in die Luft geworfenen Balls, die auf der Basis der physikalischen Gesetze vorhergesagt werden kann.

 

In dem Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ wurden Szenarien veröffentlicht. Die Medien und die Öffentlichkeit verstanden diese oftmals als Vorhersagen oder Prognosen. Das waren sie nicht. Heute würde man von Projektionen sprechen, d. h. von Wenn-dann-Rechnungen. Dennoch waren die vorgestellten Szenarien das Resultat von etwas bis dahin nie Dagewesenem: Mit der damals neuen Technologie des Computers wurde unsere Welt als ein zusammenhängendes Weltmodell dargestellt. Mit dem Weltmodell konnte simuliert werden, wie sich das Gesamtsystem unter Veränderung bestimmter Parameter – wie z. B. Bevölkerungswachstum, industrielle Produktion oder Umweltbelastungen – verhalten würde. Das Ergebnis waren die veröffentlichten Szenarien.

 

Sie waren damit das Resultat der Bemühungen, das Systemverhalten des Weltmodells herauszuarbeiten. Analog zu dem Ball-Beispiel also wissen zu wollen, wie die Flugbahn des Balls ungefähr aussehen könnte. Würden Sie jedoch exakt wissen wollen, wie sich die Geschwindigkeit des Balls verlangsamt oder ab welcher Höhe sich seine Flugbahn umkehrt, müssten Sie viel komplexere und individuellere Berechnungen unter Berücksichtigung der Anfangsgeschwindigkeit und der Maße des Balls, der Stärke des Windes usw. anstellen. Übertragen auf das Weltmodell und die Szenarien hieße das, dass wesentlich mehr Daten und viel komplexere Zusammenhänge zwischen den Komponenten des Modells hätten berücksichtigt werden müssen. Da­rauf wiesen die Autoren des Berichts an mehreren Stellen hin.

 

Die Interpretation des Berichts als eine Art Vorhersage der Zukunft hält sich jedoch bis heute. Versteht man „Die Grenzen des Wachstums“ als solche, sind Fragen wie: „Hat sich der Club of Rome geirrt?“ oder „Wann geht das Öl aus?“ nachvollziehbar. Sie sind jedoch nicht zielführend und verkennen, wofür der Bericht geschrieben wurde und was wir tatsächlich aus ihm lernen können: systemische Verhaltensweisen, die zeitlos und grundsätzlicher Natur sind:

 

Erstens: Die Dynamiken exponentiellen Wachstums: Obwohl exponentielles Wachstum ein natürliches und in der Natur häufig vorkommendes Phänomen ist, kann unser Gehirn mit ihm nicht wirklich umgehen.

 

Zweitens: Risiken, die durch Zeitverzögerungen im System entstehen: Entscheidungen, die wir heute treffen, führen oft erst zu sichtbaren Veränderungen in Wochen, Jahren oder gar Jahrzehnten. Es ist damit nicht nur äußerst schwierig zu erkennen, was wirksam ist, sondern erschwert zudem die Akzeptanz von heute beschlossenen Maßnahmen, da sie für die meisten Menschen nicht von Belang erscheinen.

 

Drittens: Die Undurchschaubarkeit und limitierte Vorhersagbarkeit komplexer Systeme, wie das Erdsystem eines ist: Wenn verschiedene Prozesse gleichzeitig ablaufen und sich gegenseitig – und ggf. auch noch zeitlich verzögert – beeinflussen, dann wird es außerordentlich schwierig, das Systemverhalten in Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu durchschauen, insbesondere wenn es sich um nichtlineare Beziehungen handelt, die etwa zu abrupten Veränderungen ohne Vorwarnung führen können.

 

Aurelio Peccei – einer der beiden Gründer des Club of Rome – beschrieb 1976 in seinem Buch „Die Qualität des Menschen“ die Hoffnung, die er persönlich mit „Die Grenzen des Wachstums“ verbunden hatte: „Es kam darauf an, dass alle einen großen Schritt des Verstehens machten“. Ein solcher Schritt des Verstehens komplexer Systeme und der Dynamiken exponentiellen Wachstums hätte uns vielleicht auch in den letzten beiden Pandemie-Jahren oder bei der Vermeidung der Klimakrise geholfen.

 

Eine zentrale Erkenntnis aus der Analyse des Systemverhaltens ist für die Gestaltung der Zukunft bis heute sehr bedeutend. Sie wurde von Dennis L. Meadows – dem Hauptautor von „Die Grenzen des Wachstums“ – jüngst in einem Interview erneut hervorgehoben: „Wenn man im Modell z. B. die Ressourcenknappheit beseitigt, indem man unendliche Ressourcen oder fabelhafte Technologien voraussetzt, dann taucht ein anderes Problem auf.“ Das heißt, die Autoren des Berichts und die Mitglieder des Club of Rome erkannten bereits vor 50 Jahren, dass selbst bei optimistischeren Annahmen und damit verbundenen Änderungen der Parameter, der eingeschlagene Entwicklungspfad – früher oder später – in dieselbe Sackgasse führen würde: Das wirtschaftliche Wachstum wird zuerst langsamer und geht dann zurück – „Die Grenzen des Wachstums“.

 

Gaya Herrington, Direktorin beim Finanzdienstleister KPMG, verglich im letzten Jahr den aktuellen globalen Entwicklungsstand und die Szenarien aus „Die Grenzen des Wachstums“. Sie kam zu dem Ergebnis, dass die aktuellen Daten am ähnlichsten zu zwei Szenarien sind: BAU2 – „Business-as-usual“ (wir machen wie gewohnt weiter) – und CT – „Comprehensive Technology“ (wir erzielen große technische Fortschritte). Das optimistischste Szenario „Stabilized World“, zu Deutsch: Welt im Gleichgewicht, ist das, welches am allerwenigsten der tatsächlichen Entwicklung entspricht.

 

Herrington betont, wie auch bereits die Autoren von „Die Grenzen des Wachstums“, dass unklar ist, wie unsere Gesellschaft, die auf Wachstum fußt, mit einer solchen Entwicklung umgehen will. Und genau hier liegt auch die Hoffnung für eine Trendumkehr: Es sind wir Menschen, die entscheiden, wie unsere Reaktionen aussehen. Und wir sind es auch, die grundsätzlich einen anderen Entwicklungspfad einschlagen könnten.

 

Doch Technologie und regulatorische Maßnahmen allein werden nicht die Lösung sein. Der Schlüssel oder die unbedingte Voraussetzung für eine ausbalancierte Entwicklung wird auf der letzten Seite von „Die Grenzen des Wachstums“ genannt: „Der Mensch muss sich selbst – seine Wertevorstellungen und Ziele – erforschen“. Jeder Versuch und jede Maßnahme, einen dauerhaften Gleichgewichtszustand zu erreichen, sei letztlich „nur bei grundsätzlicher Änderung der Wert- und Zielvorstellungen des Einzelnen und auf Weltebene von Erfolg gekrönt“. Aurelio Peccei schrieb später im Vorwort eines weiteren Berichts an den Club of Rome – „No limits to learning“: „Die Lösungen sind einzig in uns selbst zu suchen“. Peccei bezeichnete diese Voraussetzung als nichts weniger als eine kulturelle Revolution.

 

Mit „Die Grenzen des Wachstums“ hatte der Club of Rome der Welt die Augen geöffnet. Leider haben wir sie zu schnell wieder geschlossen. Statt einer kulturellen Revolution und Entwicklung in Richtung einer lebensfördernden Zukunft und den damit verbundenen Werten, wie Empathie, Verantwortung, Demut, Respekt und Wertschätzung für das Lebendige und was Lebendigkeit erzeugt, müssen wir Verhaltensweisen wie Gier, Egoismus oder Neid erleben, die nicht nur die Ökosysteme, sondern auch unsere Gesellschaft langsam an die Grenzen bringt.

 

Wir müssen Lehren aus Versäumnissen der Vergangenheit ziehen. Wir brauchen nicht mehr allein ein zukunftsfähiges Wachstum, sondern auch ein neues gesellschaftliches Klima.

 

Hierfür braucht es einen Perspektivwechsel, weg vom sinnlosen Kampf um den Erhalt des Status quo hin zu einem Klima, das Lust macht auf Veränderung, das die Schwachen einbindet, das konstruktiv nach vorne blickt, unterschiedliche Interessen transparent macht und auf einen fairen Ausgleich bedacht ist. Die Gestaltung der Zukunft beginnt mit dem Blick auf die Möglichkeiten, auf das Morgen und die Wertschätzung dessen, was da ist – und davon gibt es (noch) unglaublich viel.

 

Zu den Lehren der Vergangenheit gehört aber auch der Mut und die Klarheit, Neues auszuprobieren. Wir haben das 50. Jubiläum von „Die Grenzen des Wachstums“ zum Anlass genommen, selbst eine neue Rolle einzunehmen und Fragen zu stellen, statt uns allein darauf zu konzentrieren, den Finger in die Wunde zu legen und Antworten geben zu wollen. Fragen, die unsere Denkweisen und Narrative herausfordern und auf die jeder Mensch für sich eine Antwort finden kann. Vielleicht berührt Sie persönlich eine der Fragen auf ganz besondere Weise?

 

Was empfindest du, wenn dir ein guter Freund sagt: „Angesichts der bevorstehenden Klimakrise setze ich lieber keine eigenen Kinder in diese Welt“?

 

Stellen Sie sich vor, es ist kein guter Freund, der Ihnen das sagt, sondern eines Ihrer eigenen Kinder. Was empfinden Sie dabei? Welche weiteren Fragen wirft das bei Ihnen auf?

 

Wir haben 24 weitere solcher Fragen definiert und wir laden Sie ein, einige der Fragen für sich zu beantworten, mit anderen zu diskutieren, sie zu iterieren oder selbst Fragen zu stellen. Welche Erfahrungen machen wir, wenn wir anfangen, Fragen zu stellen, statt Meinungen zu vertreten? Vielleicht brauchen wir für eine kulturelle Revolution– die so existenziell ist, um die Lebensgrundlagen nicht zu zerstören – nicht noch mehr Antworten, sondern bessere Fragen?

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/22.


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