Joachim-Felix Leonhard - 29. Mai 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Das Grüne Band

Eine verbindende Linie


Ohne ehrenamtliches Engagement wären viele Gedenkorte nicht möglich

Als Walter Ulbricht am 15. Juni 1961 verkündete, „niemand habe die Absicht, eine Mauer zu errichten“, wollte er kaum den listigen Odysseus nachahmen, als dieser weiland als „Niemand“ den Riesen Polyphem überlistete; es war Hinterlist, mit der Ulbricht leugnete, dass er sechs Wochen später mit Stacheldrahtzäunen und Mauern entlang der deutsch-deutschen Grenze einen Todesstreifen errichten ließ. Und: Er war nicht allein, denn die Sowjetunion und die Staaten des damaligen Warschauer Paktes taten Ähnliches und trennten damit vom Eismeer bis zum Schwarzen Meer nicht nur Europa in Ost und West, sondern durch die Militärbündnisse des Warschauer Paktes und der Nato gewissermaßen auch die ganze Welt. Ein „Eiserner Vorhang“, von dem Winston Churchill wohl in Vorahnung eines aufziehenden Kalten Krieges und der erst später gebauten 12.500 Kilometer langen Grenzlinie schon am 12. Mai 1945 sprach, trat in die Weltpolitik ein – und wurde seit dem Zerschneiden des Zauns zwischen Ungarn und Österreich am 10. September 1989 und der folgenden politischen Wende zu einem Teil der Weltgeschichte.

 

Globalgeschichtlich stellte diese Grenze etwas Besonderes dar, denn z. B. zum UNESCO-Weltkulturerbe erhobene historische Grenzanlagen wie die Chinesische Mauer oder der römische Limes in Großbritannien und Deutschland waren Außengrenzen eines jeweiligen Herrschaftsbereiches und besaßen nicht gleich die Qualität einer Weltteilung in zwei Blöcke. Einzigartig im Vergleich zu den genannten historischen Grenzlinien sind der Bau, vor allem der Fall des Eisernen Vorhangs auch deshalb, weil Bürgerinnen und Bürger gegen Unrecht und Unfreiheit aufstanden und Bürgerrechte – und in Deutschland eine Wiedervereinigung – erfolgreich erlangten. Diese Grenzlinie quer durch Europa hatte im Bewusstsein der Menschen längst Normalität über fast 30 Jahre angenommen, bis die Perestroika im Osten eine politische Wende und eine Entwicklung in Gang setzte – hin zu einem sich enger zusammenschließenden Europa mit einer sich bildenden europäischen Bürgergesellschaft, die allerdings in diesen Tagen wieder manch eher Trennendes denn Verbindendes erfährt.

 

Umso wichtiger scheint dann die Erinnerung an das, was war, zu sein, und umso reizvoller wirkt da der Gedanke, auf diesem vermeintlich toten Grenzstreifen nun ein lebendiges Grünes Band mit historisch-politischer Erinnerung und Artenvielfalt wachsen zu lassen: Was zuvor politisch und kulturell eine Trennlinie vom Eismeer bis zur Schwarzen Meer war, soll über die Natur, die sich im ehemaligen Todesstreifen über Jahre in erstaunlicher Artenvielfalt erhalten hat, eine verbindende Erinnerungslinie werden, in der Natur und Kultur über einen steten Bildungsauftrag zusammenkommen.

 

Wie schnell frühere Sperrlinien im öffentlichen Raum und damit im Bewusstsein verschwinden, zeigt das Beispiel des Potsdamer Platzes in Berlin, wo bis auf wenige Reste allzu viele Mauerteile allzu raschem Kommerz geopfert wurden und ein künstlicher Steinstreifen am Boden eine Markierung bietet, den die meisten Passanten achtlos überqueren. Anders und vorbildlich hat man z. B. in Mödlareuth in Oberfranken, im thüringischen Teistungen oder bei Travemünde Gedenkstätten errichtet, wo auch künftige Generationen nachvollziehen können, wie die DDR seinerzeit ihre Bürger abgeriegelt hatte. Diese Gedenkorte sind mit viel ehrenamtlichem Engagement eingerichtet worden: an einer Grenzlinie, an der sich über 1.400 Kilometer DDR-Grenzsoldaten, bundesdeutscher Grenzschutz und zum Teil auch US-Streitkräfte gegenüberstanden – und heute Wanderwege und der 2014 eingerichtete und 2019 vom Europarat als „Kulturweg“ ausgezeichnete Radfernweg „Iron Curtain Trail“ zur Erfahrung von Geschichte und Landschaft einladen. Historische Dokumentation und staatsbürgerliche Bildung können sehr gut einhergehen mit der Wahrnehmung einer Natur, die sich in Fauna und Flora auf dem ehemaligen Todesstreifen wieder zeigt. So kann der Wandel des Eisernen Vorhangs zu einem Grünen Band Europa im Sinne des Bewahrens, können Kultur und Natur zusammen und nicht, wie meist üblich, getrennt betrachtet werden.

 

Angesichts der welthistorischen Bedeutung dieser Grenzanlagen und ihres Wandels kann man die Frage stellen, ob der frühere Eiserne Vorhang und das daraus sich wandelnde Grüne Band nicht auch für eine Nominierung für die Liste des UNESCO-Welterbes geeignet sein könnten. Wenn Authentizität und universelle Bedeutung wesentliche Rollen für Aufnahmen in diese Liste spielen, dann kann man diesem Gedanken schon deshalb nähertreten, weil die Wandlung des ehemaligen Todesstreifens international als ein sowohl Völker verbindendes als auch Frieden stiftendes Symbol anzusehen ist. Allein schon die Beschäftigung mit einer solchen Vision kann lohnend sein, auch wenn man nicht weiß, ob die Bemühungen erfolgreich sein werden, aber: Die von BUND, EuroNatur, Bundesamt für Naturschutz und der Thüringischen Landesregierung vom 15. bis 19. Oktober 2019 auf der Wartburg veranstaltete „Paneuropäische Grüne-Band-Konferenz“ mit 110 Teilnehmern aus 24 europäischen Staaten war ermutigend und soll fortgeführt werden. Das war auch bei einem jüngst vom Deutschen Kulturrat und dem BUND im oberfränkischen Bad Alexandersbad erstmals gemeinsamen Kolloquium ebenso zu vernehmen wie die Absicht der beiden, für Kultur bzw. Natur stehenden Partner, diese Zusammenarbeit thematisch fortzusetzen.

 

Solches geschieht ja nicht zum Selbstzweck der beiden Verbände, sondern als Beitrag, über Kultur und Natur Verbindungen zu suchen in einem 12.500 Kilometer langen europäischen Objekt, das historisch für die Teilung der Welt stand und in einem zusammenwachsenden Europa Symbolcharakter für Gemeinsames in Kultur und Natur bieten kann. Das verdient nachhaltig Aufmerksamkeit und Anerkennung.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2020.


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