Hessen: Deutschlands Mitte ist ganz stark am Rand

Landeskulturpolitik in Hessen

Hessen

  • Landeshauptstadt: Wiesbaden
  • Gründung: 19. September 1945 (US-Militäregierung), 1. Dezember 1946 (Volksabstimmung)
  • Einwohner: 6,1 Mio.
  • Fläche: 21.115 km²
  • Bevölkerungsdichte: 291 Einwohner pro km²
  • Regierungschef: Volker Bouffier (CDU)
  • Regierende Parteien: CDU und Bündnis 90/Die Grünen
  • Nächste Wahl: Herbst 2018
  • Minister für Wissenschaft und Kunst: Boris Rhein (CDU)
  • Öffentliche Ausgaben für Kultur: 639 Mio. Euro/Jahr
  • Kulturausgaben je Einwohner: 106,57 Euro/Jahr
  • Kommunalisierungsgrad: 65,0 %

Die Hessen sind anders als die anderen Kinder. Im Hessischen Landtag z. B. geht es im Kulturpolitischen Ausschuss gar nicht um Kulturpolitik: Aus eher unerfindlichen Gründen ist man dort nur für Schulfragen zuständig. Die „Kultur“, im landläufigen wie im kulturpolitischen Sinne, beschäftigt stattdessen den Ausschuss für Wissenschaft und Kunst – jedenfalls am Rande.

 

Das liegt an der etwas ungleichen Verteilung der Mittel zwischen den beiden Disziplinen: Fast 2,7 Milliarden Euro stehen im Etat des zuständigen Ministers Boris Rhein (CDU), doch nur ein Zehntel, 224 Millionen Euro, davon fließt in die Kultur. Das ist einerseits nicht verwunderlich, denn Hessen weist mit 65 Prozent – Tendenz steigend – den zweithöchsten Kommunalisierungsgrad aller Bundesländer bei den Kulturausgaben auf, nach Nordrhein-Westfalen mit fast 80 Prozent. Doch gleichzeitig kommt aus der Landeskasse deutlich mehr Geld für die Förderung von Theatern, Museen, Bibliotheken, kulturelle Begegnung und Bildung als mit 190 Millionen Euro beim immerhin dreimal größeren Nachbarn im Westen.

 

Die nackten Zahlen sind aber nur das Eine; Atmosphäre und Stimmung in einem Land etwas ganz Anderes. Und in diesen emotionalen Sphären scheint das kulturelle Leben Hessens gerade enormen Auftrieb zu haben. Wirklich belegen lässt sich sowas kaum – aber es gibt Indizien.

 

Kassel startet durch
„Du bist keine Schönheit“, sang Herbert Grönemeyer dereinst über seine gefühlte Heimatstadt Bochum. Das könnte man getrost auch über Kassel sagen, nur aus ganz anderen Gründen: Cassel – ja, so elegant schrieb sich das amtlich noch bis 1926 – war 600 Jahre lang die Hauptstadt der Landgrafschaft Hessen bzw. des späteren Kurfürstentums. Die fast durchgängig mit Fachwerkhäusern bebaute historische Innenstadt wurde 1943 in einer einzigen Bombennacht zu mehr als 80 Prozent zerstört. Seitdem ist der Gang durch die Kasseler City keine Freude mehr, zumindest aus Sicht von Architekten und Denkmalschützern.

 

Vergleichbare Ausgangslagen haben in vielen westdeutschen Städten zu einer Abkehr vom kulturellen Fokus insgesamt geführt. Ganz anders am nördlichen Rand Hessens und das gleich mehrfach: Bereits 1955 veranstaltete Kassel die erste documenta. Die weltweit bedeutendste Ausstellungsreihe zeitgenössischer Kunst findet seither alle fünf Jahre statt; 2017 ist es mal wieder soweit. Neben der eigens dafür errichteten Halle werden stets weitere markante Orte im Stadtgebiet eingebunden: Der historische Park Karlsaue, der 300 Jahre alte Museumsbau Fridericianum, der zum Kulturbahnhof umgewidmete frühere Hauptbahnhof.

 

Den bekommt die Bahn allerdings offenbar nie so richtig fertig saniert, das Karikaturenmuseum im Erdgeschoss ist seit Jahren hinter Bauzäunen verborgen – Ende offen. Keinen Kilometer entfernt wartet eine weitere Dauerbaustelle auf ihren Abschluss: Das Landesmuseum Kassel wird seit mittlerweile acht Jahren umfangreich saniert. Nach etlichen Verzögerungen soll es nun aber „in wenigen Monaten“ wiedereröffnen, wie zuletzt eher beiläufig im hauseigenen Blog zu lesen stand. Das Land wird dann insgesamt 200 Millionen Euro in die Museumslandschaft Hessen Kassel investiert haben.

 

Die Stadt selbst konnte mit der Grimmwelt schon im vergangenen Jahr ein großes Museumsprojekt feiern: Die beiden Sprachforscher, Märchensammler und politischen Aktivisten Jacob und Wilhelm Grimm waren ihr Leben lang vielfältig mit Kassel verbunden. Ihre Arbeit wird nun nicht nur in einem spektakulären Museumsneubau präsentiert, sondern auch vorbildlich. Szenografie und Vermittlung der Ausstellung sind voll auf der Höhe der (digitalen) Zeit, die Resonanz darauf übertrifft sogar alle Erwartungen: Bereits im ersten Jahr haben sich mehr als 140.000 Menschen in die Welt des Brüderpaars entführen lassen – gerechnet hatte man mit etwa halb so viel Besuchern.

 

Das Beste soll noch kommen: Kulturhauptstadt Europas
Das absolute Highlight der Kasseler Kulturlandschaft liegt allerdings noch ein paar Kilometer weiter westlich vom Stadtzentrum: Im UNESCO-Welterbe Bergpark Wilhelmshöhe. 2013 haben die Vereinten Nationen die barocke Gartenanlage mit der markanten Herkules-Statue über den weitläufigen Wasserspielen und das darunter gelegene Schloss mit dem begehrten Titel ausgezeichnet. Seitdem ist die Stadt derart euphorisiert, dass der nächste Coup bereits vorbereitet wird: Auf Ini­tiative des Noch-Oberbürgermeisters Bertram Hilgen will man sich für das Jahr 2025 wieder als Europäische Kulturhauptstadt bewerben.

 

Beim ersten Versuch 2005 war Kassel zwar im innerdeutsche Rennen gegen Essen und Görlitz frühzeitig ausgeschieden, doch der Bewerbungsprozess hatte zu einer unerwartet offenen Positionsbestimmung der Stadt geführt. Darin sehen viele örtliche Kulturakteure heute den Auslöser für die ungeahnte Entwicklung im vergangenen Jahrzehnt. Nun soll der Welterbe-Titel für den Bergpark genutzt werden, um doch noch in den europäischen Fokus zu treten. Dieser Plan findet auch in der Bevölkerung eine ungewöhnlich breite Zustimmung. 80 Prozent der Kasseler, Kasselaner und Kasseläner (Einwohner, Eingeborene, dynastische Wohnbevölkerung) sprachen sich in Umfragen für die Kulturhauptstadt-Bewerbung aus.

Peter Grabowski
Peter Grabowski ist kulturpolitischer Reporter.
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