Weniger „Wir“, mehr „Ich“

Die Angst in der deutschen Gesellschaft wächst unaufhörlich. Die Coronapandemie hat wie ein Katalysator gewirkt, die schon vorhandenen gesellschaftlichen Fehlentwicklungen verstärkt und beschleunigt. Besonders junge Menschen sind von einer erschreckenden Lebensangst erfasst. Die äußeren Umstände sind wahrlich nicht erbaulich. Erst Corona, dann Krieg, und alles wird noch überschattet von dem von Menschen gemachten Klimawandel mit seinen immer sichtbarer werdenden dramatischen Auswirkungen. Das Vereinsamungssinstrument Homeoffice wurde für viele auf Dauer gestellt.

 

Ja, da kann man schon den Mut verlieren, besonders wenn man einen Glauben an eine Utopie nicht kennt. Politische Utopien sind spätestens mit dem Fall der Mauer und dem darauffolgenden vermeintlichen Sieg der globalen Ökonomie gegen die Staatswirtschaften zu den Akten gelegt worden. Ein gutes Leben wird nicht durch mehr Solidarität, mehr gesellschaftliche Gerechtigkeit, mehr persönliche Entfaltungsmöglichkeiten, sondern durch mehr individuellen Konsum erreicht.

 

Auch die Religionsgemeinschaften verlieren immer stärker ihre Bindungswirkung. Ihnen laufen ihre Mitglieder in Scharen davon. Der Glaube an ein höheres Wesen ist für immer weniger Menschen in unserem Land ihre persönliche Utopie. Religion als gesellschaftlich verbindendes Band verliert deutlich an Bedeutung.

Das „Wir“ wird immer stärker durch das „Ich“ abgelöst. Die eigenen Befindlichkeiten, das In-den-Mittelpunkt-Stellen der eigenen Gefühlslage, nimmt beständig zu. Aber damit wächst auch die eigene Angst. Die Angst, schon als Jugendlicher in der Schule zu scheitern, die Angst, die Berufsausbildung oder das Studium nicht exzellent abzuschließen, die Angst, im Beruf, in der Familie, in Beziehungen nicht optimal zu funktionieren, Angst, Angst, Angst.

 

Gerade in den sogenannten sozialen Medien wird das Konzept der persönlichen Selbstoptimierung gepredigt. Das eigene Ich in seiner Vollkommenheit und in seiner Empfindlichkeit ist eine Art Religionsersatz. Immer tiefer wird in sich selbst hineingehört, jede kleinste Niederlage, jede äußere Kritik wird zur persönlichen Katastrohe.

Die Erwartungen an diese Selbstoptimierung werden immer höhergeschraubt. Nun soll jeder Einzelne durch sein individuelles Tun den Klimawandel aufhalten und eine gerechtere Welt schaffen. Jede Flugreise in den Urlaub wird zum persönlichen Schuldbekenntnis gegen die Zukunft des Planeten. An dieser übersteigerten persönlichen Verantwortung kann man nur scheitern und verzweifeln.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 9/2023.

Olaf Zimmermann
Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Herausgeber und Chefredakteur von Politik & Kultur.
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