Cancel Culture

Die Rechts-Mutante

Zurzeit wird intensiv über „Cancel Culture“ gestritten, also über Versuche von „Linken“, Andersmeinende mundtot zu machen. Übersehen wird dabei zu oft, dass es auch auch eine „rechte“ Variante gibt. Einige erregen sich sehr darüber und befürchten Schlimmes. Andere wiegeln ab und erklären „Cancel Culture“ zum neurechten Kampfbegriff. Um was geht es hier also – um eine ernste Gefahr für die Meinungsfreiheit oder um ein Propaganda-Phantom? Ich weiß es nicht genau, denn ich habe selbst keine Erfahrung mit einer linken „Cancel Culture“ gemacht. Nur in den Medien lese ich dies und das. Allerdings glaube ich, mich daran erinnern zu können, dass eine linke Intoleranz nichts Neues wäre. In meinen ersten Semestern in Tübingen, damals in den frühen 1980er Jahren, konnte ich noch erleben, wie Vorlesungen von sektiererischen K-Gruppen gestört wurden. Allerdings fallen mir da gleich auch Versuche von pietistischen Kommilitonen wieder ein, Lehrveranstaltungen über die historisch-kritische Bibeldeutung zu sabotieren. Nichts Neues also?

 

Womit ich aber gerade selbst Erfahrungen sammle, ist die neurechte Variante. Oder soll ich sagen: „Mutante“? Dramatisch und lebensbedrohlich sind meine Cancel-Erfahrungen nicht. Da widerfährt anderen Menschen weitaus Schrecklicheres. Aber mehr als eine bloße Befindlichkeitsstörung ist es eben doch. Allerdings bieten sich auch hier für mich Möglichkeiten, etwas zu lernen und auszuprobieren. Z. B. diese Strafanzeige eines erzürnten Mitglieds einer neuen Rechtspartei. In einem Radiointerview hatte ich mich moderat und differenziert, wie ich fand, zu der Frage geäußert, ob man Vertreter seiner Partei zum Kirchentag einladen sollte. Einen Satz hatte er, bewusst oder unbewusst, falsch verstanden, es folgten ein wütender Brief und eine Strafanzeige. Da ich es nicht gewöhnt bin, Post vom Berliner Polizeipräsidenten zu erhalten, erschrak ich zunächst, fand dann aber einen kundigen Rechtsanwalt, der mich ruhig durch diesen Vorgang führte, der am Ende, wie zu erwarten war, zu nichts führte. Was mich das gelehrt hat? Dass es geübte Praxis bei Rechten – von Islamisten und einigen muslimischen Verbänden hört man interessanterweise Ähnliches – ist, ihre Gegner mit Strafverfahren zu überziehen. Sie kosten nichts und bringen dem anderen selbst dann, wenn sie aussichtslos sind, Stress und Kosten ein. Vielleicht, so das Kalkül, wird er das nächste Mal schweigen.

 

Ob dies der Unterschied zwischen linkem und rechtem Canceln ist: Rechte rennen im Stillen zur Obrigkeit, es sind ja autoritäre Charaktere, und Linke sammeln Unterschriften für Protestpetitionen, weil sie öffentliche Aufmerksamkeit suchen? Wenn ja, würde mich das an zwei Formen von aggressiven Gruppenverhalten aus meiner Schulzeit erinnern: beim Direktor petzen oder Klassenkeile.

 

Die zweite Erfahrung: Ich habe das vergangene Jahr für eine theologische Auseinandersetzung mit der Neuen Rechten genutzt. Das Ergebnis erscheint bald in einem Buch mit dem Titel „Christentum von rechts“. Dies hat mir und einer Zeitschrift, für die ich regelmäßig schreibe, unschöne Abmahnschreiben eingetragen. Ich sehe in ihnen Versuche, mir mein Recht auf Meinungsfreiheit zu nehmen. Einer der Auftraggeber ist interessanterweise Mitglied eines neuen Netzwerks für Wissenschaftsfreiheit. Wieder hatte ich das Glück, einen guten Rechtsanwalt zu finden. Diesmal fand ich aber auch Zugang zu Historikern, denen es ähnlich ergangen war: Sie sollten mit Abmahnschreiben zum Schweigen gebracht werden. Wie gut, dass der Verband der Historikerinnen und Historiker Deutschlands diese Fälle sammeln und öffentlich auswerten will. Wenn man sich in guter Gesellschaft weiß, lässt man sich weniger leicht einschüchtern. Allerdings hörte ich von befreundeten Journalisten, wie erfolgreich solche Drohschreiben sind. Viele Verlage sind klamm und geben klein bei. Das ist eine bedenkliche Entwicklung.

 

Bemerkenswert, aber auch typisch war schließlich dieses: Dieselben, die mir böse Anwaltsbriefe schicken ließen, beschwerten sich öffentlich, ich würde sie canceln wollen. Dabei griffen sie ohne Bedenken auf Verleumdungsversuche eines Empörungspublizisten zurück, der mich gelegentlich in hartrechten Schmuddelblättern und fundamentalistischen Sondermedien anzugreifen beliebt. Das ergibt ein seltsames Wechselspiel, das allerdings zur Mode geworden ist: Je nachdem, wie es gerade passt, wechselt man von Täter- in die Opferrolle und wieder zurück. Wie gesagt, das alles ergibt kein großes Drama. Andere – vor allem Frauen mit Migrationshintergrund – müssen mit weitaus schlimmeren Anfeindungen umgehen. Dennoch, ich finde es gar nicht so leicht, hier einen klaren Kopf zu bewahren.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 5/2021.

Johann Hinrich Claussen
Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.
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