Andreas Guibeb und Hans Jessen - 26. April 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Kolonialismus-Debatte

Namibia wartet


Die deutsche Anerkennung des Völkermordes an den Herero und Nama muss offiziell werden

Andreas Guibeb ist namibischer Botschafter in Deutschland. Hans Jessen spricht mit ihm über die versäumte Aufarbeitung der deutschen Kolonialvergangenheit in seinem Heimatland.

 

Hans Jessen: Herr Botschafter, in Deutschland wird, auch in Verbindung mit der Konzeption des Humboldt Forums, intensiv über den Umgang mit dem deutschen Kolonialismus diskutiert. Wie nehmen Sie diese Diskussion wahr?
Andreas Guibeb: Aufregend. Sie begann etwa zum selben Zeitpunkt, als ich 2016 mein Amt als Botschafter antrat. Ich freue mich, dass Deutschland endlich seine Aufmerksamkeit auf die „afrikanische Frage“ richtet, nachdem es so lange mit der eigenen Geschichte nach der Wiedervereinigung beschäftigt war. Die Probleme Afrikas und mit Afrika sind nicht auf Migrationsfragen begrenzt. 1884 fand in Berlin auf Einladung des Reichskanzlers Otto v. Bismarck die „Westafrika-Konferenz“ statt. Hier wurden die Grundlinien der kolonialen Aufteilung beschlossen. Viele aktuelle Schwierigkeiten Afrikas resultieren aus diesem historischen Erbe.

 

Namibia, ehemals eine von vier deutschen Kolonien, aber einzige deutsche Siedlerkolonie, ist der afrikanische Staat, mit dem Deutschland die intensivste historische Beziehung hat. Mit dem dramatischen Höhepunkt, dass zwischen 1904 und 1908 durch die Kolonialmacht im damaligen „Deutsch- Südwestafrika“ rund 80.000 Herero und Nama umkamen. Das Herero-Volk wurde zu drei Vierteln ausgelöscht. Stellt sich Deutschland seiner historischen Schuld und Verantwortung?
Das sollen politische Beobachter und Historiker beurteilen. Die Frage ist: Wann hätte diese Diskussion beginnen sollen? Tatsächlich startete sie auf bilateraler Ebene 2016 mit der Einsetzung der Sonderbeauftragten durch die deutsche und namibische Regierung. Das war 26 Jahre, nachdem Namibia am 21. März 1990 unabhängig geworden war. Hätte das Thema nicht sofort nach der Unabhängigkeitserklärung behandelt werden sollen? Deutschland befand sich im politischen Prozess seiner Wiedervereinigung und hätte auf diesen Teil der gemeinsamen Geschichte blicken können. Der parteiübergreifende Bundestagsbeschluss von 1989, der „die besondere Verantwortung der Bundesrepublik für Namibia und alle seine Bürger“ aufgrund ihrer besonderen historischen und moralischen Verantwortung gegenüber Namibia formuliert und deren Bekräftigung in der Bundestagsresolution von 2004 hätte wegweisend sein können.

 

Aufgrund der besonderen Situation von Namibia als Siedlerkolonie ist heute ein beträchtlicher Teil der namibischen Bevölkerung deutschen Ursprungs. Namibia ist das einzige afrikanische Land, in dem Deutsch eine offizielle Sprache ist, in dem Schüler das Abitur machen können. Bundeskanzler Helmut Kohl war der erste und letzte deutsche Regierungschef, der Namibia 1996 einen offiziellen Staatsbesuch abgestattet hat. Bundespräsident Roman Herzog folgte 1998 mit einem Staatsbesuch. Auf dieser Ebene war es das. Man kann die Frage stellen: Hatte die gemeinsame Geschichte auf Regierungsebene Priorität? Ich kann mir schwer vorstellen, dass Frankreich einen Dialog mit Afrika organisiert und vergisst, die Führung seiner ehemaligen Siedlungskolonien zum Gespräch einzuladen.

 

Sie haben, nach Kohls Tod, Bundeskanzlerin Angela Merkel darauf angesprochen – wie reagierte sie?

Sie sagte: „Oh, wie schrecklich!“ Bei anderer Gelegenheit sagte ich zu ihr: „Das namibische Volk ruft Ihren Namen“. Außenminister Steinmeier stand daneben und fragte: „Was sollte das bedeuten?“ Ich erklärte ihm: „Das bedeutet, Namibia wartet auf einen hochrangigen Besuch aus Deutschland.“ Wir warten noch immer.

 

Vergangenes Jahr wurden in einer Zeremonie sterbliche Überreste von Herero und Nama an Vertreter des Staates Namibia und der indigenen Gesellschaften zurückgegeben. Vor Kurzem wurden Bibel und Peitsche Hendrik Witboois aus dem Stuttgarter Linden-Museum nach Namibia restituiert. Welche Bedeutung haben diese Rückgaben?
Sie haben eine heilende Wirkung auf die Menschen, man darf das nicht unterschätzen. Viele Gesellschaften, nicht nur afrikanische, sind in Gegenwartsfragen gespalten. Die Rückgabezeremonie war einer dieser besonderen Augenblicke, in denen wir uns von den trennenden Problemen abwenden und die verbindenden Momente erkennen können. Regierung, Opposition, Zivilgesellschaft, Religionsgemeinschaften, Alt und Jung waren vereint in diesem Moment. Bénédicte Savoy hat recht: Die Rückgabe hält gewissermaßen die Zeit an und erlaubt uns die Rückbesinnung auf das, wofür diese Objekte ursprünglich standen. Wir brauchen solche Momente des Innehaltens und der Reflexion.

 

Über Namibia hinaus: Was erwarten afrikanische Staaten und Kulturen? Die Rückgabe möglichst vieler Objekte aus kolonialem Kontext? Oder Hilfe beim Aufbau kultureller Infrastruktur in den Staaten der Herkunftsgesellschaften?
Etwas von beidem. Es wäre unverantwortlich, Objekte zurückzufordern, wenn keine Einrichtungen da wären, um sie aufzubewahren, sie zu zeigen, zu erforschen. Man darf sie nicht in Depots begraben. Aber wir haben oft nicht die Rahmenbedingungen, um die Objekte öffentlich auszustellen. Das ist die Bitte aus afrikanischen Staaten: Bitte gebt uns die wichtigen Objekte zurück – und helft uns dabei, Museen und Einrichtungen in unseren Ländern aufzubauen, wo wir sie angemessen aufbewahren und zeigen können. Das ist etwas, was wir in dieser besonderen Beziehung zwischen Deutschland und Namibia diskutieren: Schaffung von Erinnerungskultur als Teil von Versöhnung. Und zwar an den Orten, wo die historischen Ereignisse stattfanden. Jedes Jahr besuchen etwas mehr als 123.000 deutsche Touristen Namibia. Sie sollten etwas erfahren können über unsere gemeinsame Geschichte. Wir möchten gern ein Museum an der Stelle bauen, wo Hendrik Witboois Haus stand.

Deutsche Museumsleute sagen gelegentlich: „Unsere afrikanischen Kollegen sind weniger an Rückgabe interessiert als an Transparenz über die Bestände hier und an offenem Zugang.“ Halten Sie das für vorgeschobene Argumente, um Sammlungen behalten zu können?
Da möchte ich die Gegenfrage stellen: Was bedeutet Zugang? Wir würden sehr gern die Museen und Sammlungen besuchen. Aber: Welche realistische Möglichkeit haben normale Afrikaner, hier Objekte ihrer kulturellen Tradition zu sehen? Sie müssen Schlange stehen für ein Schengen-Visum bei der deutschen Botschaft, sie müssen nachweisen, dass sie genügend Geld für Hotel und Behandlung im Krankheitsfall haben. Ein normaler Mensch aus Afrika hat null Zugang zu Objekten in deutschen Museen, die für ihn kulturell oder ethnologisch von Bedeutung sind. Wir sollten für Bedingungen sorgen, die tatsächlich Zugang ermöglichen. Mauritius und die Seychellen sind Länder, die von der Schengen-Visumsbefreiung profitieren, weil Frankreich ihren Antrag unterstützt hat. Was hat Deutschland für namibische Bürger inklusive seiner Deutschstämmigen gemacht? Eigentlich nichts, obwohl Namibia kein Flüchtlingsland ist. Ohne Restitution wird es für die meisten Afrikaner keinen Zugang zu Museumssammlungen geben. Vielleicht lässt sich aus dem Umgang mit Raubkunst aus jüdischem Besitz lernen, wie ein solcher Prozess organisiert werden kann.

 

Das Eckpunkte-Papier von Bund, Ländern und Kommunen entspricht im Hinblick auf ein Gesamtkonzept der Stellungnahme des Deutschen Kulturrates – dort wird allerdings gefordert, die Strukturen des Welthandels müssten in die Diskussion einbezogen werden. Wie bewerten Sie diese Position?
Die Auffassung, dass die Wirtschaft der Politik folge, ist falsch. Adolf Lüderitz aus Bremen war kein Politiker, sondern ein Kaufmann. Er ging aus Geschäftsgründen nach Afrika. Die Politik, die kolonialen Strukturen, folgten dem. Wir sollten heute die Probleme nicht voneinander trennen. Wir werden keine Lösungen finden, wenn wir Politik und Wirtschaft in verschiedenen „Körben“ behandeln. Ich spreche von Gerechtigkeit – das meint eine wiederherstellende Gerechtigkeit. Gerechtigkeit kann nicht nur „gemacht“ werden, man muss sehen können, wie sie erreicht wurde. Schauen wir uns an, wie Europa heute mit Afrika spricht: Man hat nicht den Eindruck, dass es da um Herstellung einer gerechten Balance geht. Das ist leider ein Grundproblem vieler Initiativen: Wenn ein „Marshallplan für Afrika“ diskutiert wird, so sind es Lösungsvorschläge, die zumeist ohne afrikanische Beteiligung konzipiert wurden.

 

Die zehntausendfache Tötung von Herero und Nama wurde letztes Jahr von Staatsministerin Michelle Müntefering in einer persönlichen Erklärung als Genozid bezeichnet – aber noch gibt es keine offizielle deutsche Anerkennung dieses Völkermordes. Offenbar aus Furcht vor Entschädigungszahlungen, die nach einer Anerkennung zu leisten wären. Wie kann eine Lösung aussehen?
Ich verstehe die deutsche Sorge vor der rechtlichen Dimension des Genozids. Aber es gibt eine historische und moralische Verantwortung. Der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert hat zu einem frühen Zeitpunkt sinngemäß erklärt: „Wenn wir das Geschehen in jener Zeit messen an dem, was wir heute unter ‚Genozid‘ verstehen, dann gibt es keinen Zweifel, dass es ein Genozid war.“

 

Ich sehe die deutsche Bereitschaft, das zu akzeptieren – aber es muss offiziell werden. Namibia hat eine lange Tradition der Versöhnung. Wir haben lange gegen die deutsche Kolonialherrschaft gekämpft und dann gegen die südafrikanische Besatzung. Versöhnung auf der Grundlage von Respekt – das vermissen wir von Deutschland.

 

Woran erkennt man nach 29 Jahren, dass es besondere Beziehungen zwischen Deutschland und seiner Siedlerkolonie gibt, wenn die einzige Bundestagsfreundschaftsgruppe mit einem afrikanischen Land die mit Ägypten ist? Die Beziehungen zwischen Deutschland und Namibia dürfen nicht auf eine entwicklungspolitische Diskussion reduziert werden. Namibia ist überall in Afrika und international ein respektierter politischer Partner, nur nicht in Deutschland – und das, weil man gewisse Themen vermeiden möchte. Wir können diese Diskussion aber nicht vermeiden.

 

Niemand kann Leben, das vernichtet wurde, zurückgeben. Aber es gibt eine Verantwortung für die Folgen dieser kolonialmilitärischen Aktionen, die Vernichtung großer Teile der Herero- und Nama-Völker. Damit wurden Zukunfts- und Entwicklungschancen vernichtet. Wie viele Herero und Nama gäbe es ohne den Völkermord? Was könnten sie leisten? Die Verantwortung liegt darin, die Existenzbedingungen der lebenden Angehörigen dieser Völker zu unterstützen und zu fördern.

 

Die Geste der Entschuldigung sollte mit einer Geste dessen einhergehen, was auf Deutsch „Wiedergutmachung“ heißt. Das ist Inhalt von Gesprächen zwischen unseren Regierungen. Deutschland und Namibia haben ihre Vorstellungen genannt, nun geht es darum, die Lücke zwischen diesen Vorstellungen zu schließen. Das Kriterium ist nicht in erster Linie eine Geldsumme, sondern ein richtiges Engagement für einen langfristigen Wiederaufbau. Denken Sie an die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges und das, was anschließend von den Amerikanern initiiert wurde. Die Mittel des Marshallplans wurden großteils für den Wiederaufbau Europas eingesetzt.

 

Sie stellen sich eine Kombination aus Entschuldigung für den Genozid und einem deutschen Marshallplan für Namibia vor?
Ganz genau. Das könnte jeden Menschen in Namibia und Deutschland überzeugen, dass beide Nationen eine Seite im Buch der Geschichte gewendet haben. Wir können die Vergangenheit nicht ändern. Aber wir können als Lebende für eine lang andauernde gerechte und friedliche Zukunft sorgen. Ich denke, dass ein deutscher Marshallplan für Namibia dazu führen könnte, dass mögliche zukünftige Klagen gegenstandslos werden.

 

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2019.


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