Namibia wartet

Die deutsche Anerkennung des Völkermordes an den Herero und Nama muss offiziell werden

Andreas Guibeb ist namibischer Botschafter in Deutschland. Hans Jessen spricht mit ihm über die versäumte Aufarbeitung der deutschen Kolonialvergangenheit in seinem Heimatland.

 

Hans Jessen: Herr Botschafter, in Deutschland wird, auch in Verbindung mit der Konzeption des Humboldt Forums, intensiv über den Umgang mit dem deutschen Kolonialismus diskutiert. Wie nehmen Sie diese Diskussion wahr?
Andreas Guibeb: Aufregend. Sie begann etwa zum selben Zeitpunkt, als ich 2016 mein Amt als Botschafter antrat. Ich freue mich, dass Deutschland endlich seine Aufmerksamkeit auf die „afrikanische Frage“ richtet, nachdem es so lange mit der eigenen Geschichte nach der Wiedervereinigung beschäftigt war. Die Probleme Afrikas und mit Afrika sind nicht auf Migrationsfragen begrenzt. 1884 fand in Berlin auf Einladung des Reichskanzlers Otto v. Bismarck die „Westafrika-Konferenz“ statt. Hier wurden die Grundlinien der kolonialen Aufteilung beschlossen. Viele aktuelle Schwierigkeiten Afrikas resultieren aus diesem historischen Erbe.

 

Namibia, ehemals eine von vier deutschen Kolonien, aber einzige deutsche Siedlerkolonie, ist der afrikanische Staat, mit dem Deutschland die intensivste historische Beziehung hat. Mit dem dramatischen Höhepunkt, dass zwischen 1904 und 1908 durch die Kolonialmacht im damaligen „Deutsch- Südwestafrika“ rund 80.000 Herero und Nama umkamen. Das Herero-Volk wurde zu drei Vierteln ausgelöscht. Stellt sich Deutschland seiner historischen Schuld und Verantwortung?
Das sollen politische Beobachter und Historiker beurteilen. Die Frage ist: Wann hätte diese Diskussion beginnen sollen? Tatsächlich startete sie auf bilateraler Ebene 2016 mit der Einsetzung der Sonderbeauftragten durch die deutsche und namibische Regierung. Das war 26 Jahre, nachdem Namibia am 21. März 1990 unabhängig geworden war. Hätte das Thema nicht sofort nach der Unabhängigkeitserklärung behandelt werden sollen? Deutschland befand sich im politischen Prozess seiner Wiedervereinigung und hätte auf diesen Teil der gemeinsamen Geschichte blicken können. Der parteiübergreifende Bundestagsbeschluss von 1989, der „die besondere Verantwortung der Bundesrepublik für Namibia und alle seine Bürger“ aufgrund ihrer besonderen historischen und moralischen Verantwortung gegenüber Namibia formuliert und deren Bekräftigung in der Bundestagsresolution von 2004 hätte wegweisend sein können.

 

Aufgrund der besonderen Situation von Namibia als Siedlerkolonie ist heute ein beträchtlicher Teil der namibischen Bevölkerung deutschen Ursprungs. Namibia ist das einzige afrikanische Land, in dem Deutsch eine offizielle Sprache ist, in dem Schüler das Abitur machen können. Bundeskanzler Helmut Kohl war der erste und letzte deutsche Regierungschef, der Namibia 1996 einen offiziellen Staatsbesuch abgestattet hat. Bundespräsident Roman Herzog folgte 1998 mit einem Staatsbesuch. Auf dieser Ebene war es das. Man kann die Frage stellen: Hatte die gemeinsame Geschichte auf Regierungsebene Priorität? Ich kann mir schwer vorstellen, dass Frankreich einen Dialog mit Afrika organisiert und vergisst, die Führung seiner ehemaligen Siedlungskolonien zum Gespräch einzuladen.

 

Sie haben, nach Kohls Tod, Bundeskanzlerin Angela Merkel darauf angesprochen – wie reagierte sie?

Sie sagte: „Oh, wie schrecklich!“ Bei anderer Gelegenheit sagte ich zu ihr: „Das namibische Volk ruft Ihren Namen“. Außenminister Steinmeier stand daneben und fragte: „Was sollte das bedeuten?“ Ich erklärte ihm: „Das bedeutet, Namibia wartet auf einen hochrangigen Besuch aus Deutschland.“ Wir warten noch immer.

 

Vergangenes Jahr wurden in einer Zeremonie sterbliche Überreste von Herero und Nama an Vertreter des Staates Namibia und der indigenen Gesellschaften zurückgegeben. Vor Kurzem wurden Bibel und Peitsche Hendrik Witboois aus dem Stuttgarter Linden-Museum nach Namibia restituiert. Welche Bedeutung haben diese Rückgaben?
Sie haben eine heilende Wirkung auf die Menschen, man darf das nicht unterschätzen. Viele Gesellschaften, nicht nur afrikanische, sind in Gegenwartsfragen gespalten. Die Rückgabezeremonie war einer dieser besonderen Augenblicke, in denen wir uns von den trennenden Problemen abwenden und die verbindenden Momente erkennen können. Regierung, Opposition, Zivilgesellschaft, Religionsgemeinschaften, Alt und Jung waren vereint in diesem Moment. Bénédicte Savoy hat recht: Die Rückgabe hält gewissermaßen die Zeit an und erlaubt uns die Rückbesinnung auf das, wofür diese Objekte ursprünglich standen. Wir brauchen solche Momente des Innehaltens und der Reflexion.

 

Über Namibia hinaus: Was erwarten afrikanische Staaten und Kulturen? Die Rückgabe möglichst vieler Objekte aus kolonialem Kontext? Oder Hilfe beim Aufbau kultureller Infrastruktur in den Staaten der Herkunftsgesellschaften?
Etwas von beidem. Es wäre unverantwortlich, Objekte zurückzufordern, wenn keine Einrichtungen da wären, um sie aufzubewahren, sie zu zeigen, zu erforschen. Man darf sie nicht in Depots begraben. Aber wir haben oft nicht die Rahmenbedingungen, um die Objekte öffentlich auszustellen. Das ist die Bitte aus afrikanischen Staaten: Bitte gebt uns die wichtigen Objekte zurück – und helft uns dabei, Museen und Einrichtungen in unseren Ländern aufzubauen, wo wir sie angemessen aufbewahren und zeigen können. Das ist etwas, was wir in dieser besonderen Beziehung zwischen Deutschland und Namibia diskutieren: Schaffung von Erinnerungskultur als Teil von Versöhnung. Und zwar an den Orten, wo die historischen Ereignisse stattfanden. Jedes Jahr besuchen etwas mehr als 123.000 deutsche Touristen Namibia. Sie sollten etwas erfahren können über unsere gemeinsame Geschichte. Wir möchten gern ein Museum an der Stelle bauen, wo Hendrik Witboois Haus stand.

Andreas Guibeb und Hans Jessen
Andreas Guibeb ist namibischer Botschafter in Deutschland. Hans Jessen ist freier Journalist und ehemaliger ARD-Hauptstadtkorrespondent.
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