Johann Michael Möller - 27. März 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Kolonialismus-Debatte

Im Lager der "Bremser und Erbsenzähler"


Das Gebot der Sorgfalt in der Kolonialismusdebatte ist essenziell

Dem deutschen Kulturföderalismus sollte ein Kränzlein gewunden werden. Er hat sich nicht ins Bockshorn jagen lassen, ist nicht dem Druck der Museumsstürmer erlegen; er hat einfach seinen Job getan. In den „ersten Eckpunkten“ zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten haben sich alle mit diesem Thema befassten Institutionen auf eine besonnene Gangart verständigt, auch wenn sie sich gleich wieder den Vorwurf anhören mussten, ihr Papier sei „ernüchternd bis enervierend“. Doch diese Bedächtigkeit ist viel wert gegenüber einer Debatte, die von ihren selbst ernannten Wortführern seit Monaten mit immer schrilleren Tönen geführt wird. Wer da noch zur Sorgfalt mahnt, findet sich unversehens im Lager der Bremser und Erbsenzähler wieder, denen selbst die Bundeskulturministerin Monika Grütters öffentlich die Leviten lesen zu müssen glaubte. Für so einen Firlefanz wie Provenienzforschung habe man jetzt keine Zeit mehr. Warum eigentlich nicht? Woher diese Eile? Oder haben die Protagonisten der Raubkunstkampagne gar die Sorge bekommen, dass ihnen ihr argumentativer Boden unter den Füßen wegbrechen könnte, wenn sie nicht schnell genug laufen?

 

Es kam ja inzwischen so, wie es kommen musste. Kaum hatten die Führer der Volksgruppe der Nama erfahren, dass das Stuttgarter Linden-Museum Bibel und Peitsche ihres großen Volkshelden Hendrik Witbooi an den namibischen Staat zurückgeben wolle, haben sie vehement dagegen protestiert. Die Frage nach dem richtigen Adressaten dieser Rückgaben ist nämlich eine ganz zentrale. Wer soll eigentlich die Objekte bekommen, die jetzt zurückgegeben werden? Die neuen Eliten der auf dem kolonialen Reißbrett entstandenen afrikanischen Staaten? Sie haben mit den Ursprungskulturen der fraglichen Werke nicht viel gemein. Aus ihrer häufig islamisch geprägten Sicht ist das noch immer recht primitives Zeug. In Stuttgart hat der Verfassungsgerichtshof trotzdem für die Rückgabe entschieden und eine bemerkenswerte Begründung mitgeliefert. Der Streit der Nama mit ihrer Regierung sei nicht mehr unsere Sache. Das müssten die jetzt untereinander klären.

 

Wahrscheinlich ist es auch besser, wenn wir uns da raushalten. Erfinden von Traditionen ist, wie wir wissen, ein heikles Geschäft. Aber das Stuttgarter Urteil heißt im Klartext: Sollen die doch sehen, wie sie damit klarkommen. Uns geht das jetzt nichts mehr an. Der Fall Witbooi zeigt jedenfalls auch, um wie vieles komplizierter die Dinge liegen, als uns eine fahrlässige Kampagne weismachen will. Die ist wie intellektuelles Waldsterben. Wer fragt, hat verloren. Der versündigt sich an den kommenden Generationen, an Mutter Natur oder dem Gaia-Prinzip. Alles hat irgendwie mit allem zu tun. Aber so ganz genau weiß man das nicht.

 

Damit kein Missverständnis aufkommt. Die Bilanz nach einem halben Jahrhundert Entkolonialisierung ist verheerend. Die Probleme Afrikas haben uns erst interessiert, als die Flüchtlinge vor unserer Haustür standen. Und selbst jetzt schämen wir uns nicht, den kleinen Entwicklungshilfeetat auch noch zu kürzen.

 

Es hat trotzdem etwas Anmaßendes und auch Ignorantes, wie die Protagonisten dieser Raubkunstdebatte glauben, auf die Schnelle einen Beglückungskreuzzug in Gang setzen zu müssen, an dem es keine Zweifel mehr geben darf. In früheren Zeiten hätte man von der „Kaiser-Wilhelm-Landdurchquerungsmethode“ gesprochen. Der bei intellektuellen Schludrigkeiten sehr empfindliche Patrick Bahners hat als Erster darauf aufmerksam gemacht, in welcher Gefahr diese Debatte steht, sich in die abenteuerlichsten geschichtspolitischen Konstruktionen zu verirren.

 

Aber auch in der Sache selbst erfährt man merkwürdige Begründungen. So hat sich der Stiftungspräsident des Deutschen Historischen Museums, Raphael Gross, jüngst zur Rückgabe des berühmten, sich heute in Berlin befindlichen „Cape Cross“ geäußert, einer Kalksteinsäule, die von portugiesischen Seefahrern 1486 an der Südwestküste Afrikas auf dem Gebiet des heutigen Namibias errichtet wurde. Das sei zwar kein „koloniales Raubgut im eigentlichen Sinne“, meint Gross, aber es gäbe doch gute Gründe für eine Rückgabe „vor dem Hintergrund einer zukunftsorientierten Betrachtung“.

 

Was das heißt, bleibt völlig im Vagen; es geht um die pure „Intervention“ jenseits „rechtlicher Normen“. Das wird nur von Bénédicte Savoy überboten, die hofft, die zurückkehrenden Objekte würden auf eine magische Weise den betroffenen Gesellschaften bei der Selbstheilung helfen. Das sei doch „Energie, spirituelle Energie oder was auch immer“. Entwicklungshilfe mit der Bachblütentherapie.

 

Ein solches Ansinnen führt schnurstracks in die Praxis vergangener Zeiten zurück, in der man auch glaubte, sich nach persönlichem Gusto aus Museumsbeständen bedienen zu können. Dass den von Berufs wegen peniblen Kuratoren dabei die Haare zu Berge stehen, ist völlig verständlich. Ihr Appell, sich die fraglichen Sammlungen doch erst einmal anzuschauen, bevor man sie über die Welt verteilt, verstärkt nur den Eindruck, dass die Wortführer der Raubkunstdebatte die Objekte kaum kennen, über die sie so vollmundig reden.

 

Das fängt schon bei den nüchternen Fakten an. Der Großteil der ethnologischen Sammlungen sind Dinge des täglichen Lebens. Sie haben mit unseren Vorstellungen von kultureller Repräsentation wenig zu tun. Als man dem damaligen Leiter des in Rede stehenden Berliner Museums die Kriegsbeute aus den Kolonialkriegen ins Haus stellen wollte, wusste er mit den Zigtausenden Speeren gar nichts anzufangen. Der Streit geht vor allem um die Objekte, die den Künstlern der Moderne imponiert haben. Europa sucht sich sein Afrika aus, das es den Afrikanern zurückgeben will.

Auch die dubiose Behauptung, dass sich 90 bis 95 Prozent des afrikanischen Kulturerbes heute außerhalb des Kontinents befänden, wurde von der Ethnologin Z. S. Strother, die an der Columbia University lehrt, grandios widerlegt. Allein das Nigerianische Nationalmuseum in Lagos verfügt über 50.000 Kunstwerke; das Musée du quai Branly in Paris hat nach Schätzungen nur 20.000 Objekte mehr. Strother sieht den eigentlichen Grund für das Drängen auf Tempo bei der Rückgabefrage deshalb in Emmanuel Macrons politischen Ambitionen in Afrika. Das Bild der Franzosen dort soll sich schnell ändern. Tatsächlich fällt auf, dass es bei allen Aktionen vor allem um Afrika geht. Der nigerianisch-amerikanische Kunsthistoriker Teju Cole hat vor diesem „weißen industriellen Heilsbringer-Komplex“ deutlich gewarnt. Wenn man sich schon in das Leben anderer Menschen einmischen würde, dann sei Sorgfalt doch das Mindeste, was man erwarten kann.

 

Es ist naiv zu glauben, dass sich die Identifikation mit den Objekten von selbst einstellen würde, wenn sie nur wieder in Afrika sind. Aus verschiedensten Gründen tun sich die modernen afrikanischen Gesellschaften schwer mit ihrem aus kolonialer und vorkolonialer Zeit stammenden Erbe. Strother kennt diese Geschichte des Scheiterns, Savoy offenbar nicht. Unser Gesicht Afrikas ist eben ein anderes als das der Afrikaner selbst. Das ist eine Binsenweisheit der postkolonialen Debatte, aber nicht einmal die wird bei uns reflektiert. Es ist überhaupt erstaunlich, warum wir in einer globalen Welt die Dinge unbedingt an ihren Ursprungsort zurückbringen wollen. Da kommt ein Kulturessenzialismus zum Vorschein, der ein halbes Jahrtausend Entdeckungsgeschichte und Welterfahrung schlicht ignoriert.

 

Niemand bestreitet mehr die Gewalt, die den Menschen in den Kolonien angetan wurde. Unter den Folgen leiden sie bis heute. Aber wir helfen ihnen nicht mit einem Ablasshandel, der nur unser eigenes Gewissen beruhigt.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2019.


Copyright: Alle Rechte bei Deutscher Kulturrat

Adresse: https://www.kulturrat.de/themen/erinnerungskultur/kolonialismusdebatte/im-lager-der-bremser-und-erbsenzaehler/