Heilen, was zerbrochen ist

Die Rückgabe der Familienbibel und Peitsche Hendrik Witboois

Nicht wenige Hindernisse galt es zu überwinden, bevor Theresia Bauer, die baden-württembergische Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst, am 28. Februar 2019 die Familienbibel und Peitsche des Nama-Anführers und namibischen Nationalhelden Hendrik Witbooi an den Präsidenten der Republik Namibias, Hage Gottfried Geingob, übergeben konnte. Deutsche Truppen hatten die beiden Objekte nach dem Angriff auf das Nama-Lager in Hornkranz am 12. April 1893 geplündert. In Gibeon, dort, wo heute noch die Grundmauern des von deutschen Soldaten gesprengten Wohnhauses Hendrik Witboois zu sehen sind, harrten mehr als 5.000 Menschen mehrere Stunden in sengender Hitze aus, um die Übergabe mitzuerleben. „Nun werden wir gemeinsam heilen können, was zerbrochen ist“, war gleich zu Beginn der Zeremonie zu hören. Von einem „Neuanfang“ war die Rede, von der „Überwindung des Traumas vergangener Generationen“.

 

Schmerzen und Tränen hatten Bibel und Peitsche Hendrik Witboois auch auf ihrem langen Weg von Windhoek nach Gibeon begleitet. In Rehoboth, in Kalkrand und schließlich in Mariental waren es jeweils mehrere hundert Menschen, die sich versammelt hatten, um die beiden Objekte mit eigenen Augen zu sehen, um ihre Heimkehr persönlich mitzuerleben: In Mariental nähert sich eine direkte Nachfahrin Hendrik Witboois der Bibel, eine schon hochbetagte Frau, gestützt auf den Arm einer Verwandten. Beim Anblick des Buches mit handschriftlichen Eintragungen Witboois bricht sie in Tränen aus. Tränen, die ich nie wieder vergessen werde, weil sie einfach nicht enden wollen. Erst sehr viel später hat sie sich gefasst und kann wieder sprechen. Warum sie so geweint habe? Erlösung, Erleichterung – endlich!

 

Endlich! „Finally!“ – dieses Wort ist immer wieder zu hören in jenen Tagen, nicht als Vorwurf, sondern als Ausdruck der Freude darüber, dass nun etwas Neues beginnen kann, etwas, das bislang nicht möglich war. Die Rückführung emblematischer, gewaltsam angeeigneter Objekte nicht als Schlusspunkt eines langen, einseitigen Bußakts, sondern als bescheidene Geste der Aufrichtigkeit am Anfang des gemeinsamen Ringens um Verständigung und Dialog.

 

Auch von „Heilung“ ist immer wieder die Rede. Können Dinge heilen? Die meisten von uns würden diese Frage verneinen, zu tief verankert in unserem Denken ist die Überzeugung, dass die Dinge das sind, was wir in ihnen sehen wollen, dass Objekte erst im Akt der Zuschreibung zu dem werden, was sie zu sein scheinen, dass ihnen letztlich nicht mehr innewohnen kann als das, was wir ihnen in unseren Handlungen zubilligen. Die Konzepte, mit denen wir in den Kulturwissenschaften die Rolle der Dinge in der Gesellschaft beschreiben, thematisieren demgemäß in erster Linie ihre Ambivalenz, ihre Variabilität oder gar ihre Instabilität: Wir haben die Dinge dekonstruiert.

 

Eine offenbar ganz andere Vorstellung vom Stellenwert der Dinge für das Soziale drückte sich in dem aus, was wir unmittelbar nach der Landung auf dem Hosea Kutako International Airport in Windhoek am 26. Februar um 6.30 Uhr morgens miterleben dürfen: Begleitet von einem traditionellen Preislied auf Hendrik Witbooi wird seine Bibel und Peitsche mit militärischen Ehren in Empfang genommen, zum Flughafengebäude geleitet und dort von den Nachkommen des Nationalhelden wie Familienmitglieder empfangen. Es wird gebetet, gesungen, getanzt. Dann, mit größter Sorgfalt, wird die Bibel aus ihrem Transportbehälter befreit, man hält sie in die Höhe, klatscht, einige bekommen sie zu fassen, streicheln sie zärtlich, liebkosen sie, weinen vor Freude. Und wieder ist die Rede von Heilung, von der Rückkehr des verloren Geglaubten, vom Beginn einer neuen Zeit.

 

In diesem Moment habe ich zum ersten Mal wirklich verstanden, was Felwine Sarr und Bénédicte Savoy meinen, wenn sie in „Rapport sur la restitution du patrimoine culturel africain. Vers une nouvelle éthique relationelle“ davon sprechen, dass Kulturgüter „Energiereserven“ sind, „kreative Ressourcen, Reservoirs von Potential, Kräfte, die alternative Figuren und Formen des Realen erzeugen“. Dort, wo den Dingen die Kraft innewohnt, die Welt zu verändern, wo sie „Mitglieder“ der Gesellschaft und nicht nur Mittel zum Zweck sind, wo sie nicht konstruiert werden, sondern ein „Sein“ haben, dort reißt ihr Verlust tiefe Wunden, vernichtet Potenziale und Optionen und bedroht so die Entwicklungschancen einer Gesellschaft.

 

Wenn wir in Deutschland nun systematisch damit beginnen, den angemessenen Umgang mit Objekten aus kolonialen Kontexten als Teil einer umfassenden Aufarbeitung des Kolonialismus einzuüben, müssen wir zunächst anerkennen, dass unsere Sicht auf die Dinge nicht die einzig mögliche und schon gar nicht die einzig wirksame ist. Was wir ausschließlich als „Quelle“ für die Rekonstruktion historischer Lebensverhältnisse oder als museales Schaustück nutzen, mag anderen Orts einen Namen tragen oder Teil einer Erzählung sein, aus der eine Gesellschaft Orientierung bezieht. Unser Bestreben, Richtlinien und Verfahren zu entwickeln, mit denen Objekte aus kolonialen Kontexten in ihre Herkunftsstaaten und Herkunftsgesellschaften zurückgeführt werden können, muss auf der Voraussetzung verschiedener, aber prinzipiell gleichwertiger Vorstellungen vom Wesen der Dinge basieren. Erst dann werden wir begreifen, warum solche Rückführungen heilen können; erst dann können wir ermessen, wie groß unsere Verantwortung und unsere Verpflichtung auf diesem langen, gemeinsamen Weg sind.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2019.

Markus Hilgert
Markus Hilgert ist Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder.
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