Verortung in Raum und Zeit

Heimat wird in vielen Formen erlebt und tradiert

 

Ein historisches Beispiel von Heimatverlust

 

Eine ganz neue Qualität bekommt der Begriff Heimat deshalb in Krisenzeiten. Die Härte der Krise haben bisher vor allem die zu spüren bekommen, die ihre Heimat durch Flucht, Vertreibung und Migration verloren haben. Inzwischen sind es aber auch immer stärker die Sesshaften, die ihre Heimat durch Zuwanderer bedroht sehen. Tatsächlich kann man die Heimat auch verlieren, ohne sich zu bewegen. Das geschieht
z. B. wenn das eigene Land plötzlich in eine andere politische und kulturelle Form gepresst wird und sich dabei bis zur Unkenntlichkeit verändert. Der jiddische Schriftsteller Josef Burg hat das mehrfach erlebt. Er ist 1912 in Czernowitz am äußersten östlichen Rand des Habsburg-Reichs Österreich-Ungarn in einer Enklave deutschsprachig-jüdischer Kultur geboren. In dieser vielstimmigen Region, in der unterschiedliche Volksgruppen, Sprachen und Religionen friedlich nebeneinander koexistierten, erlebten die deutschsprachigen Juden im 19. Jahrhundert eine beachtliche Emanzipationsgeschichte und entwickelten eine blühende Kultur. Als 1918 mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und den Friedensverträgen neue Grenzen gezogen wurden und eine Politik der Nationalisierung begann, änderten sich die Voraussetzungen. Burg musste seine Heimat gar nicht räumlich verlassen, um den Verlust der Heimat zu erfahren: „Als ich geboren wurde, war Österreich unser Vaterland, Wien unsere Hauptstadt, und Franz Josef unser Kaiser. Als ich ein Kind war, war Rumänien unser Vaterland, Bukarest unsere Hauptstadt und Ferdinand unser König. Als Erwachsener war die Sowjetunion unsere Heimat, Moskau unsere Hauptstadt und Stalin der Vater aller Völker. Aber ich bin weder Österreicher, noch Rumäne, noch Sowjet oder Russe, sondern Bukowiner… Ich bin hier geboren. Überall bin ich Bukowiner.“

 

Dieses eindrucksvolle Bekenntnis zur kleinen Provinz Bukowina und zu Wien als Ort der Herkunft spricht das Gefühl vieler Czernowitzer Juden aus, die unterhalb der aufgezwungenen Vaterländer und Sprachen weiterhin ein Bewusstsein ihrer kulturellen Identität als moderne kosmopolitische Stadt am Rande des Habsburg-Reichs pflegten. Die kulturelle Heimat, die sie sich schufen, war politisch gesehen bereits eine Sache der Vergangenheit, mit der sie sich dem Trend der Nationalisierung subversiv widersetzten. Der Begriff „Heimat“ nahm dabei die gegensätzlichen Konnotationen von Nostalgie und Utopie in sich auf. Nachdem die Hälfte der über 60.000 Juden durch die deutsche Besatzung in Ghettos gesperrt und ermordet oder durch die sowjetische Regierung nach Sibirien deportiert und der Rest ins Ausland geflohen war, ist die Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg mit neuen Bevölkerungsgruppen aufgefüllt worden. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erlebte Josef Burg einen vierten Systemwechsel; heute gehört Czernowitz zur Ukraine. Inzwischen haben erst die Russen und dann die Ukrainer dort ein neues Heimatgefühl ausgebildet, in dem die früheren Schichten der Geschichte der Stadt lautlos verschwinden. Es gibt allerdings eine Handvoll Menschen in der nachwachsenden ukrainischen Generation, die versuchen, durch das Trauma der Gewalt und die Bleidecke des Vergessens hindurchzustoßen und den heutigen Bewohnern etwas von dem Reichtum der früheren Heimat Czernowitz ins Bewusstsein zu bringen. Denn auch das gehört für sie zu ihrer Heimat: Spurensuche, Interesse an den bedeutenden Werken der Kultur, die hier geschaffen wurden, und Teilhabe an der eigenen Geschichte.

 

Neue Heimat

 

So hieß die Baugenossenschaft, die im ausgebombten Nachkriegsdeutschland den Wiederaufbau organisierte. Damals galt es, auch 14 Millionen Geflüchteten und Vertriebenen ein Dach über dem Kopf zu bieten. Nach 1989 entstand in den neuen Bundesländern wieder eine „neue Heimat“ durch Sanierung und Rekonstruktionen. Die Aufgabe, eine weitere neue Heimat zu schaffen, betrifft nach 2015 den Westen wie den Osten. Tiefgreifende Veränderungen sind längst im Gange und es kommt nun darauf an, diesen Übergang gemeinsam und konstruktiv zu gestalten. Das Subversive am neuen Heimatbegriff könnte heute die Fokussierung auf das Lokale und Regionale sein, auf die Stadt, die Region oder die Landschaft. Während die Politik den politischen Rahmen für den abstrakten Staat und die abstrakte Nation festlegt, leben, erleben und gestalten die Bewohner ihre räumliche Nachbarschaft weitgehend selbst und legen dabei Sinn und Bedeutung des Raums fest. Durch ihre Handlungen und Beziehungen, Aktivitäten und Projekte stellen sie Heimat performativ her und gestalten sie um, indem sie andere ausschließen oder einschließen, und das heißt: indem sie füreinander einstehen, sich anerkennen, sich gegenseitig ihrer Orientierungen vergewissern und neue Formen des Zusammenlebens erproben. „Neue Heimat“ bedeutet dann, diesen Raum des Zusammenlebens gemeinsam zu definieren. Heimat wird in vielen Formen erlebt und tradiert: nicht nur in Landschaft und Architektur, sondern auch in vielen kulturellen Praktiken, die man über die Grenzen mitnehmen kann wie Sprache, Geschichten, Gedichte, Gebete, Rezepte, Bilder oder Musik. Die Landschaft und die gebaute Umwelt bleiben zurück, aber die anderen Mitbringsel können in einer neuen Heimat Platz finden. Was alles in dem Wort Heimat steckt, entscheidet sich am Schluss vor Ort. So oder so – Heimat ist immer im Umbau.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 01-02/2019.

Aleida Assmann
Aleida Assmann ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und hat bis 2014 an der Universität Konstanz unterrichtet. 2018 erhielt sie zusammen mit Jan Assmann den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
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