Andres Lepik & Theresa Brüheim - 2. Februar 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Stadtkultur

Zugang für Alle


Städte müssen wieder partizipativer und inklusiver gestaltet werden

Nicht nur in der Politik, sondern auch in der Architektur wird der Ruf nach stärkerer Bürgerbeteiligung zunehmend lauter. Bürgerinnen und Bürger wollen nicht nur informiert, sondern aktiv gestalterisch eingebunden werden. Andres Lepik ist Experte für solche partizipative Architektur.

 

Theresa Brüheim: Herr Lepik, Sie betrachten Architektur aus der Perspektive der Kunstgeschichte. Vor diesem Hintergrund: Worin besteht Ihres Erachtens die Kultur einer Stadt?

Andres Lepik: Im Idealzustand ist die Stadt für mich vor allem geprägt durch eine hohe gesellschaftliche Diversität, also die Möglichkeit des Zusammentreffens ganz unterschiedlicher Menschen auf engem Raum. Sie ist ein organisches Gebilde, an dem viele Menschen teilhaben und teilnehmen. Je diverser, desto interessanter ist es für alle – es bieten sich mehr Optionen und Möglichkeiten ökonomischer, kultureller und sozialer Art für jeden. Das ist das Wichtige an der Stadt, dass man immer wieder überraschende Dinge entdecken, andere Menschen treffen und Neues lernen kann. Daher braucht die Kultur einer Stadt Dichte und Diversität, Offenheit und Dynamik.

Ein Beispiel macht es konkreter: der Central Park in New York. Um ihn herum sind unterschiedliche soziale und ökonomische Schichten und Institutionen angesiedelt, von den Multimilliardären am Südrand bis zur afro-amerikanischen Community an der Nordseite. Aber er dient allen Bevölkerungsschichten als Orientierung und als Erholungsraum. Um ihn herum finden sich Kliniken, Museen, Synagogen und Schulen und alles wird zusammengehalten von dieser einen gemeinsamen Infrastruktur, die nach allen Seiten hin offen ist. Der Park bietet zu jeder Zeit eine hochverdichtete Mischung verschiedener Nutzungen und Bevölkerungsschichten. Das macht seine Qualität und seine Identität aus.

Die Architektur der Moderne hat dagegen sehr stark für eine Entmischung der Stadt plädiert. Die berühmte Charta von Athen, die auf dem IV. Internationalen Kongress für neues Bauen (CIAM) 1933 verabschiedet wurde, sagte, dass die Funktionen der Stadt – sprich Wohnen, Arbeiten, Erholen – zu trennen sind, um die Stadt funktionaler zu machen. Diesem Credo sind viele Stadtplaner über die Jahrzehnte gefolgt und haben die Stadt in verschiedene Zonen aufgeteilt. Wohnquartiere und auch Einkaufszentren zu ihrer Versorgung wurden vor die Stadt gelegt, der Verkehr ganz auf die Nutzung des eigenen Automobils ausgerichtet. Was am Ende dazu führte, dass die Innenstädte spätestens in den 1960er und 1970er Jahren entleert waren.

 

Sie befassen sich intensiv mit zeitgenössischen Entwicklungen im Bereich sozial engagierter Architektur und partizipativer Strukturen. Was ist genau damit gemeint? In welchem Bezug steht dies zur genannten Entmischung der Städte?

Das Architekturmuseum der TU München hat mehrere Ausstellungen gezeigt, die sich mit der gesellschaftlichen Relevanz von Architektur auseinandersetzen. Lange Zeit stand in der öffentlichen Wahrnehmung vornehmlich die Form von Gebäuden im Fokus, so etwa die Ikonen von Star­architekten wie Frank Gehry oder Zaha Hadid. Deren Bauten kommen in der Regel aber nur einem geringen Prozentsatz der Bevölkerung zugute. Architektur kann aber als eine raumgestaltende Disziplin in einem gesellschaftlichen Kontext viel mehr leisten.

Wir haben uns gefragt: Was kann Architektur konkret tun, damit die Gesellschaft zusammenwächst und nicht auseinanderfällt? Partizipation ist dabei ein wichtiges Instrument in der Planung, um Akzeptanz und Inklusion zu schaffen. Über viele Jahrzehnte waren Wohnungsprojekte beispielsweise stark geprägt von Immobilienentwicklern, die standardisierte Modelle bauen, aber die wandelnde gesellschaftliche Realität nicht widerspiegeln. Wir haben heute meistens Zwei-, Drei-, Vierzimmerwohnungen, die für Familien geplant sind. Aber allein in München gibt es gegenwärtig rund 60 Prozent Single-Haushalte. Die Entwicklungen der Developer gehen nicht mit dem gesellschaftlichen Bedarf zusammen.

Wenn man partizipativ plant, ist das anders: In unserer Ausstellung „Keine Angst vor Partizipation!“ haben wir Wohnungsbauprojekte von Baugemeinschaften und Baugenossenschaften, das sind Gruppen von Einzelpersonen und Familien, die sich selbst zusammentun und gemeinsam eigene Wohnmodelle entwickeln, vorgestellt. Dabei kommen ganz andere Grundrissstrukturen raus.

In Zürich z. B. ist die Kalkbreite ein solcher Modellbau, bei dem die umgebende Stadt integriert wurde – indem etwa die Nachbarn am neuen Gebäude durch einen öffentlichen Park in der Mitte teilhaben können, aber auch durch eine soziale Durchmischung im Inneren, die sich gegen Gentrifizierung des Quartiers stellt.

Hier ist das Prinzip der Co-Kreation zu finden – man präsentiert als Architektin bzw. Architekt also nicht vorgefertigte Planvarianten zur Entscheidung, sondern plant von Anfang an gemeinsam mit Nutzern –, das wird sehr wichtig für die Stadt der Zukunft. Hier kann nicht nur Top-down geplant werden, sondern die Bürger sollen selbst teilnehmen und gestalten.

 

Hinzu kommt, dass die Innenstädte – insbesondere der stationäre Einzelhandel dort, aber mit ihm auch Gastronomie- und Kulturangebote – immer mehr veröden. Schlägt jetzt die Stunde der Bürgerinnen und Bürger, sich „ihre Stadt zurückzuholen“, indem sie die Innenstädte partizipativ umgestalten? Das heißt, mehr gemeinsame Strukturen und Dritte Orte abseits des Konsums schaffen?

Wir sehen deutlich – und die Coronakrise hat das noch verschärft –, dass die Läden in den Innenstädten nicht mehr die regulären Käufer anziehen können. Und viele sind nun pleite. Da entsteht die Frage: Wie gehen wir danach mit diesen Räumen um? In der Münchner Innenstadt ist – wie in vielen anderen Innenstädten ja auch – der ökonomische Druck auf den Einzelhandel so hoch geworden, dass fast nur noch große internationale Handelsketten in der Fußgängerzone vertreten sind. Damit zeigt das Angebot der Waren aber auch keine Diversität mehr, es fehlen die regionalen Anbieter. Die Stadt München versucht hier etwas gegenzusteuern: In den stadteigenen Ladengeschäften, die sich z. B. im Rathausgebäude befinden, werden geringere Mieten verlangt als in der umliegenden Fußgängerzone. Das heißt, hier gibt es dann noch eine ganze Reihe von Läden, die z. B. nur Schirme, nur Filz oder nur Würste verkaufen. Aber das sind nur kleine Testfelder. Es wäre wichtig, dass sich die Städte wieder mehr ihren Grund und Boden im Zentrum zurückholen – und nicht immer an den Meistbietenden verkaufen, sondern versuchen, mit guten Konzepten zu arbeiten.

Die Menschen werden in ihrer freien Zeit auch zukünftig gerne wieder in die Innenstädte gehen, wenn es dort vielseitige Angebote gibt. Sie kaufen dabei aber gar nicht mehr so viel direkt. Das Bedürfnis, einen Stoff anzufassen, einen Schuh anzuprobieren bleibt, vor allem auch, wenn man sich mit Freundinnen und Freunden dazu trifft – aber statt zu kaufen, fotografieren immer mehr Kunden die Sachen und bestellen sie dann online. Da wird es einen Wechsel geben. Die Läden werden eventuell wieder kleiner, sie werden vielleicht auch nicht mehr so viel stationären Umsatz machen, aber sie müssen mehr individuelle Atmosphäre bieten, um Kunden zu gewinnen.

Wenn Sie weiterdenken, wie könnten weitere partizipative Räume in der Innenstadt zukünftig aussehen? Sind es Grünflächen, Kulturräume, Dritte Orte?

Eine große Mischung von allem! Speziell kulturelle Orte sind ganz wichtig als Ankerpunkte neben dem Konsum. Die Krise zeigt, wie stark das Bedürfnis überall danach ist. Als Architekturmuseum sind wir auch von den Schließungen betroffen. Durch die ausbleibenden Besuche bricht die Aufmerksamkeit massiv weg: keine Schüler kommen, keine Workshops, keine Führungen und sonstige Veranstaltungen finden mehr statt. Das ist aber im Grunde das Wichtige an Dritten Orten wie Bibliotheken oder Museen: Dort kommen Menschen zusammen, die sich sonst nicht treffen würden, und nehmen gemeinsam einen zusätzlichen Ort wahr. Auch darin besteht die Qualität von Innenstädten.

 

Als Direktor des Architekturmuseums der TU München zählt die Vermittlung von Architektur zu Ihren Aufgaben. Worin besteht die gesellschaftliche Relevanz von Architektur? Und wie vermitteln Sie diese?

Zuerst einmal sollten Architektinnen und Architekten stärker wahrnehmen, dass sie nicht nur Dienstleister großer Kapitalgesellschaften oder für finanzstarker Auftraggeber sind, sondern durch die Gestaltung von Bauten und Räumen immer auch eine Verantwortung für die Gesamtgesellschaft tragen – also auch für die, die gar nicht zu den unmittelbaren Nutzern eines Gebäudes zählen. Wir als Museum wollen der Öffentlichkeit klarmachen, dass Architektur alle angeht – und nicht nur die Spezialisten, die Architektur studiert haben.

Im letzten Jahr haben wir die Ausstellung „Zugang für Alle – Access for all“ gezeigt. Dabei wurden in São Paulo soziale Infrastrukturen in den Blick genommen und gezeigt, wie mitten in einer Megacity bestimmte Gebäude eine hohe soziale Mischung generieren. Dazu zählen Kultureinrichtungen, die auf der Avenida Paulista neu gebaut wurden und neben Ausstellungsflächen, Bibliotheken auch Cafés, öffentliche Aussichtsterrassen und teilweise auch öffentlich zugängliche Toiletten haben.

Letzteres Thema ist ein ganz wichtiger Aspekt in einer Stadt. Gerade bereiten wir eine Ausstellung für nächsten Winter vor, die Obdachlosigkeit thematisiert. Man kann ganz deutlich sehen, wie große und kleine Städte weltweit in den letzten Jahren immer mehr versuchen, Wohnungs- und Obdachlose aus der Innenstadt und somit aus der Sichtbarkeit zu drängen. Allein in der Münchner Innenstadt gibt es so gut wie keine öffentliche Toilette mehr, die man als Wohnungsloser benutzen könnte. Das kostet mindestens einen Euro. Und es gibt auch fast keine Bänke mehr im öffentlichen Raum, auf denen man sich hinlegen und schlafen könnte. Immer mehr davon haben jetzt in der Mitte eine Trennung, um das zu vermeiden. An solchen Beispielen wollen wir der Öffentlichkeit klarmachen, dass jede Gestaltungsentscheidung – und wenn es eine Parkbank ist – auch eine soziale Entscheidung darstellt. Wir entscheiden so, wen wir sehen wollen und wen nicht.

Ein positives Beispiel in diesem Zusammenhang ist die New York Public Library: Dort gab es im Untergeschoss seit jeher öffentlich zugängliche Toiletten und Duschen – auch für die Nicht-Bibliotheksbenutzer. Beides wurde regelmäßig von Obdachlosen benutzt. Mit der Renovierung der New York Public Library wurde auch diskutiert, wie nun mit diesen öffentlichen Sanitärorten umzugehen ist. Und es ist klar entschieden worden, dass die Toiletten und Duschen wieder öffentlich zugänglich sein müssen. Damit Menschen, die aus welchen Gründen auch immer auf der Straße leben, zu jedem Zeitpunkt eine Chance haben zu duschen. In München kenne ich in der Innenstadt keinen Ort, wo das möglich wäre. Das ist nicht inklusiv.

Daran kann man deutlich erkennen, was Inklusion von Gesellschaft im erweiterten Sinn bedeutet – und wie schnell es zu exklusiven Gestaltungsmaßnahmen kommen kann, sodass Stadt dann einen ganz anderen Wert bekommt.

 

Was sind andere aktuelle Themen, die Sie in den Fokus nehmen werden?

Wir werden weiter das Thema der Stadtplanung im Blick behalten. Aktuell leben über die Hälfte der Menschheit in Städten und diese Entwicklung wird weiter zunehmen. In Europa haben wir zwar andere Probleme in der Stadt als in Asien oder Lateinamerika, aber die Städte haben eine hohe Bedeutung für die wirtschaftliche und kulturelle Produktion. Eine kluge und inklusive Stadtplanung kann die Stärkung von Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft in der Stadt begünstigen. Beispielsweise befürworte ich es, dass Universitäten in der Stadt bleiben und nicht ins Umland rausziehen. Ein Austausch zwischen städtischer Gesellschaft und Studierenden ist essenziell und produktiv.

Wir werden auch weiter die elementare Frage nach den räumlichen Zusammenhängen von Arbeiten und Wohnen thematisieren: In der Coronakrise wurden wir zwar alle ins Homeoffice geschickt, aber die Mehrzahl der Arbeitgeber, der Arbeitnehmer und auch die Wohnungen waren darauf gar nicht vorbereitet. Viele, auch von meinen Kolleginnen und Kollegen, sitzen jetzt mit ihren Kindern zu Hause in Zwei- oder Zweieinhalb-Zimmer-Wohnungen. Gleichzeitig fällt Homeschooling und Homeoffice an. Das kann nicht aufgehen.

Zugleich sehen wir, dass ganz viele Büroräume nach der Krise nicht mehr belegt werden. Eine dramatische Umwälzung wird notwendig: Büroraum muss wieder schnell zu Wohnraum umgewandelt werden können, aber der Wohnraum muss auch wieder funktionale Arbeitszimmer beinhalten. Denn Homeschooling und Homeoffice werden nicht aufhören. Die Coronakrise wird irgendwann vorbei sein, aber es wird nicht die letzte Krise sein. Wir müssen alle offen sein, die Städte radikal neu zu denken.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2021.


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