Ulf Meyer - 2. Februar 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Stadtkultur

Städte des Pazifischen Jahrhunderts


Das Zeitalter der Megacities hat begonnen

Während hierzulande viele Städte schrumpfen, sprießen weltweit die Megastädte wie nie zuvor: Ihr urbanes Wachstum ist ungehemmt und die „Urbanisierung der Welt“ galoppiert, angetrieben von einem atemberaubenden Bevölkerungswachstum, wirtschaftlicher Liberalisierung und der Verknüpfung der Weltwirtschaft.

 

Die zukünftige Menschheits- und Umweltentwicklung wird zum Großteil in den Megastädten entschieden und von ihrer Planung, Gestaltung und Nachhaltigkeit hängt die urbane Zukunft ab: Noch 1950 war New York die einzige Stadt der Welt mit mehr als zehn Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern. Heute sind es 20, Tendenz steigend. Der größte städtische Ballungsraum der Welt ist Tokio mit über 34 Millionen Einwohnern. Noch schwindelerregender sind die Einwohnerzahlen: In China leben im Yangtze-Delta schon 87, im Perlflussdelta 40 und im Beijing-Tianjin-Korridor 27 Millionen Menschen dicht gedrängt in urbanen Agglomerationen, die aus mehreren Städten zusammengeschmolzen sind.

 

Wirtschaftlich liegen Welten zwischen den Metropolen in Ost und West und Nord und Süd: Während das Wirtschaftswachstum in den chinesischen Großstädten in den 1990er Jahren stürmisch emporschnellte, stagnierte es in reiferen städtischen Ökonomien wie der von Tokio, Kuala Lumpur und Bangkok. Trotz der schnell alternden Gesellschaften in reichen Nationen wie Japan schrumpft in der Megalopolis Nippons die Bevölkerung nicht: Seit dem Zerplatzen der Spekulationsblase hat Tokio selbst als Wohnstandort sogar an Attraktivität gewonnen.

 

Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen untersuchen das Phänomen des explodierenden städtischen Wachstums: vom Städtebau über die Energieversorgung bis zur urbanen Gesundheitsversorgung. Ob die schnelle Urbanisierung eine wirtschaftliche und politische Chance ist, weil sie hilft, mittelständische, bürgerliche, demokratie-affine (Stadt-)Gesellschaften herauszubilden, oder ob die Verstädterung zu Armut, Slumbildung, Radikalisierung, Umweltverschmutzung und Pandemien führt, ist umstritten. Während einige Beobachter Urbanismus als das künftige Gesellschaftsmodell betrachten, bezweifeln Kritiker die Leistungs- und Zukunftsfähigkeit von Megastädten.

 

Die Debatte über die Megastädte wird in erster Linie im Westen von fernen Beobachtern geführt: Zwei der profiliertesten Autoren, die sich mit dem Phänomen des weltweiten Stadtwachstums auseinandersetzen sind der amerikanische Kritiker Mike Davis mit seinem Buch „Planet of Slums“ und der niederländische Architekt Rem Koolhaas.

 

Davis, ein „Sozialkommentator, Soziologe und Historiker“, wurde durch seine politisch-soziologischen Untersuchungen urbaner Entwicklungen bekannt. Er hatte sich von der „City of Quartz“ (1994), seiner Heimatstadt Los Angeles als Exempel einer Stadt der ersten Welt, die Elemente einer Stadt der Dritten Welt in sich trägt, mit „Planet der Slums“ (2006, deutsch 2007) auf eine globale Betrachtungsebene hervorgearbeitet. Weil sowohl in der westlichen Welt als auch in der Dritten Welt die städtische Bevölkerung überwiegt und viele Metropolen stadtstaatlichen Charakter annehmen, der mit der Macht des jeweiligen Nationalstaats konkurriert, gewinnen Davis` Betrachtungen auch außerhalb der Stadtsoziologie Beachtung.

 

Koolhaas hingegen hat schon seit der Gründung seines „Office for Metropolitan Architecture“ (OMA) 1975 eine wichtige Rolle in der weltweiten Architektur- und Stadtdiskussion gespielt, auch wenn seine Herangehensweise nicht akademisch, sondern künstlerisch ist: In „Delirious New York: A Retroactive Manifesto of Manhattan“ hat Koolhaas Manhattan als Beispiel einer Großstadt interpretiert, deren Charakter sich in der „Kultur der Verdichtung“ manifestiert. Die Dichte der Großstadt und ihre Widersprüchlichkeit in ästhetischer, sozialer und kultureller Hinsicht machen Koolhaas zufolge deren Reiz und Qualität aus. Viele von Koolhaas Architekturentwürfen sind von diesem Verständnis der Stadt geprägt. In seinem Manifest „S, M, L, XL“ gelang es ihm, auch auf faszinierende Phänomene der Selbstorganisation in aufstrebenden Dritt-Welt-Metropolen wie Lagos in Nigeria zu lenken.

Stadt gegen Land

 

Viele Probleme der Megastädte resultieren aus dem Einkommensgefälle ihrer Bewohner und der begrenzten finanziellen Möglichkeiten zur Bewältigung der administrativen und infrastrukturellen Probleme. Die Vormachtstellung von Megastädten gegenüber den umgebenden Regionen bzw. Staaten resultiert oft aus der hohen Konzentration von politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Funktionen in der Megastadt. Die Ansiedlung bedeutsamster Unternehmen ist oft Motor dieser Polarisierung. Den hochbezahlten, städtischen Berufsgruppen steht die Masse von Unbeteiligten gegenüber. Das Stadtwachstum hemmt oft die ökonomische Entwicklung der übrigen Landesteile und fördert so die Migration in die Megastadt. Während die städtische Agglomeration sich wirtschaftlich entwickelt, profitieren weite Teile des Landes nicht gleichermaßen. Die soziale Marginalisierung breiter Bevölkerungsschichten führt zu Problemen, die für die Stadtverwaltungen nicht lösbar sind: hohe Arbeitslosigkeit, fehlender Wohnraum, Gesundheits- und Ernährungsprobleme, ungenügende Wasserver- und Abwasserentsorgung, überfüllte Verkehrswege, Umweltverschmutzung sowie steigende Kriminalitätsraten.

 

Die globale Medienaufmerksamkeit fällt auf die neuen Megastädte. Doch wichtiger als Prestigeprojekte ist die Entwicklung der Masse der Metropolen, deren Namen in Europa niemand kennt: Schon in weniger als 20 Jahren werden nach einer Schätzung der Asian Development Bank über zwei Milliarden Menschen allein in den Metropolen der Pazifikanrainerländer leben. Shenzhen in Süd-China z. B. soll als ökonomische Modellstadt die Zukunft des Landes vorexerzieren. Direkt an einer extremen Wohlstandsgrenze gelegen, profitiert die boomende Instant-Stadt ökonomisch von der Anziehungskraft der reicheren, aber auch saturierteren benachbarten Metropole Hongkong.

 

Wirtschaftlich, politisch, religiös und kulturell sind die weltweiten Megacities so heterogen wie die Welt selbst. Gemeinsam ist ihnen lediglich das rapide Stadtwachstum, die pressierenden Probleme ebenso wie die enormen Chancen, die sie zum Aufbau einer zivilen Gesellschaft bieten. Die Debatte über die Probleme der „Shrinking Cities“ darf den Blick auf die rasende Urbanisierung der Welt nicht verstellen. Denn das 21. Jahrhundert wird auch das „urbane“ und das „pazifische“ Jahrhundert genannt. In Ost-Asien wachsen Mega-städte heran, wie sie die Menschheit noch nie gesehen hat: Nicht eine oder zwei oder fünf, sondern Dutzende. Sie wachsen schnell und konzeptionslos. Und sind die Heimat von zwei Milliarden Menschen. Sie heißen Guangzhou, Hangzhou, Chongqing oder Chengdu und im Westen gibt es kaum einen, der sie auf einer Landkarte finden würde. Schon heute gibt es in Ost-Asien dreimal so viele Stadtbewohner wie in der westlichen Welt. Ihre unglaubliche Dynamik, ihr Raum- und Energiehunger, ihre Jugendlichkeit, ihre Hässlichkeit und die völlige Abwesenheit von Städtebau als gestalterischer Disziplin machen sie für Architekten, Planer und Journalisten aus dem Westen zu zugleich abstoßenden und enorm anziehenden Studienobjekten. Das explosive ökonomische Wachstum, dem die neuen „Megastädte ohne Namen“ ihre Existenz verdanken, zeigt keine Anzeichen von Abschwächung. Im Gegenteil: Längst ist die verarbeitende Industrie vom belächelten „Made-in-China“-Billigimage im Aufstieg zur Produktion von Qualitätsprodukten begriffen. Die Umgestaltung der „Altstadt“-Reste ist brutal und schnell. Die beiden Leuchttürme der städtischen Entwicklung in Ostasien, Tokio und Singapur, stehen zwar für ganz andere Urbanisierungskonzepte – bahnbasierte Metropole und autoritärer Staatskapitalismus. China formt sich daraus ein eigenes Muster: Autofreundliche, formlose Mega-Agglomerationen, die auf dem Verbrauch fossiler Brennstoffe basieren, ergießen sich in die Landschaft und fressen so die Lebensgrundlage, die Agrarflächen.

 

Japan hat vorgemacht, dass die Urbanisierung bei der „Totalstadt“ nicht aufhört. Die Grenzen zwischen Architektur und Städtebau sind ebenso nachhaltig verwischt wie die zwischen Stadt und Land. Quantität schlägt Qualität. Die namenlosen Megastädte sind die Heimat der Mehrheit der urbanen Menschheit.

 

Es zeugt von Selbstgewissheit und Euro-Zentrierung, dass hierzulande nicht verfolgt wird, wo die Musik der Zukunft der Stadt spielt.

Sie sind gesichtslos, von Smog verhangen, identitätsarm, radikal heterogen, selbstähnlich bis zur Unkenntlichkeit und frisch in die Landschaft gepflanzt – beklemmend und anziehend zugleich. Man kann den neuen Metropolen beim Wachsen zusehen. Für westliche Überheblichkeit ist dabei kein Platz. Diese Städte haben keine Vorbilder, sie müssen ihre Urbanität der Hyper-Dichte selbst erfinden und sind das Labor der städtischen Zukunft. Sie werden zu Siedlungsbändern, -gürteln und -brei zusammenwachsen und eine „Totalscape“ schaffen, die die Fläche der Nation einnimmt – mit kleinen abgegrenzten grünen Inseln darin: die totale Stadt. Alle demographischen Vorhersagen sind sich darin einig, dass diese Hyper-Städte nur eine Richtung kennen: Diese Megacityscapes wachsen alle gleichzeitig in den Himmel – für „Architektur“ bleibt da einfach keine Zeit.

 

Die Urbanisierung der Welt betrifft auch Afrika und Südamerika, aber nirgendwo galoppiert sie so schnell wie in Ostasien. Tokyo als reichste und wichtigste asiatische Stadt gereicht für Nordostasien zum Vorbild. Es folgen die Großräume Seoul, Schanghai, Jakarta und Osaka mit 16 Millionen Bewohnern. Ist die vermeintliche Verwestlichung der ostasiatischen Metropolen in Wahrheit eine Japanisierung oder Singapurisierung? Einige die reichsten Nationen wie Japan und Südkorea und einige der ärmsten der Welt erleben dasselbe Phänomen. Gemeinsam ist ihnen das globale und rapide Stadtwachstum.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2021.


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