„Innenstädte müssen Orte des Gemeinwesens sein“
Katrin Göring-Eckardt im Gespräch
Ludwig Greven spricht mit der Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Bundestag über den Gegensatz von Stadt und Land und eine gemeinsame Initiative zur Belebung der Stadt- und Ortszentren.
Ludwig Greven: Sie kommen aus der thüringischen Kleinstadt Friedrichsroda.
Katrin Göring-Eckardt: Ich bin dort nur geboren. Aufgewachsen bin ich in Gotha, das ist allerdings auch wie eine Kleinstadt, sie ist seit 1990 deutlich geschrumpft.
Nun wohnen und arbeiten Sie in Berlin. Fühlen Sie sich da wohler?
Ich lebe auch in Erfurt, meinem Wahlkreis, und manchmal in einer 2.000-Einwohner-Gemeinde in Brandenburg. Auf der einen Seite bin ich eine Landpomeranze. Ich finde es total schön, sofort im Grünen zu sein, ohne lange Anfahrt, und habe 25 Jahre in einem Dorf gewohnt, aber immer in der Nähe einer Stadt. Mein Leben hat den großen Vorteil, dass ich beides habe. In der Stadt ist das Tolle, dass man häufig kurze Wege hat zur Kultur, zum Café, zu vielen Menschen. In der Stadt ist man meistens mit Leuten zusammen, die ähnlich ticken wie man selbst. Auf dem Land und in Kleinstädten hingegen trifft man oft auf Menschen, die völlig anders sind als man selbst. Das ist gelegentlich auch eine Herausforderung. Aber mir tut das unheimlich gut. Bei dem Leben im Büro, das ich durch meinen Job zu einem großen Anteil führe, ist es hilfreich, wenn mich die Nachbarin fragt, ob ich Eier brauche, oder im Garten etwas zu einer Rede von mir sagt.
Also brauchen wir eine Ausgewogenheit von Stadt und Land?
In Deutschland spielen zum Glück Stadt und Land beide eine große Rolle. Wenn wir beides im Blick behalten, sichert das auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Es ist viel die Rede vom Gegensatz zwischen Stadt und Land, von Heimatverbundenen und Heimatlosen, im Grunde ein uraltes Thema. Sind Städte per se unbehauste Orte?
Auf dem Land muss man damit leben, dass die Nachbarinnen und Nachbarn genau wissen, wann man aufsteht, welche Klamotten man trägt, wer zu Besuch kommt. Im Positiven heißt das, man achtet aufeinander; im Negativen vielleicht auch mal Kontrolle. In der Stadt ist es anonymer, aber nicht unbedingt unbehauster. In meinem Berliner Kiez habe ich Orte, von denen ich sagen würde, sie gehören zu meiner Heimat dazu. Das Café um die Ecke zum Beispiel.
Also ein Leben auf dem Dorf in der Großstadt?
Dort treffe ich Menschen, die ich kenne oder nicht kenne, aber immer wieder sehe. Den Typen am Nebentisch allein mit seinem Laptop. Irgendwann nickt man sich zu. In der Stadt fühlen sich allerdings auch viele Menschen unfassbar einsam. Das ist eine Frage an die Stadtgesellschaft und auch an die Politik, wie wir dieser großen Einsamkeit gerade jetzt durch die Corona-Beschränkungen begegnen. Immer mehr Menschen leben allein. Für das Gemeinschaftsleben muss es deshalb Orte der Begegnung geben, gerade auch in der Stadt.
Städte waren schon immer Motoren der Entwicklung, Labore, in denen Minderheiten einen anderen Lebensstil ausprobieren können. Auf der anderen Seite haben Metropolen oft etwas Beherrschendes. Die Provinz fühlt sich zurückgesetzt.
In Städten entwickeln Menschen kreative neue Ideen, Dinge krachen aufeinander, Reibung entsteht und damit auch Wärme. Da wachsen Sachen, die vielleicht erst in fünf oder zehn Jahren Platz in der Gesellschaft haben. Andere werden nie en vogue. Von diesen Experimentierfeldern haben wir alle etwas. Das geht in der Stadt leichter als auf dem Land.
Aber dort wird dann auf eine abgehobene urbane Elite geschimpft.
Ich teile dieses Bild nicht. Auf dem Land erlebe ich viele Menschen, die etwas bewegen wollen, die unter schwierigen Bedingungen Projekte aufstellen, wo sie sich oft die Mitwirkenden nicht aussuchen können. Das führt dazu, dass solche Projekte häufig vielfältiger und kreativer sind. Und Leute sagen: Ich habe auf dem Land mehr Luft und Raum zum Denken. Sie gehen für immer oder ein paar Jahre dorthin oder sie teilen ihr Leben auf, wie ich, zwischen Stadt und Land. Aber wie soll ich ins Theater, wenn der letzte Bus um 18 Uhr fährt? Als Politik tun wir gut daran, wenn wir den ländlichen Raum nicht als strukturschwach ausbluten lassen. Das haben wir gerade in Ostdeutschland an vielen Stellen.
Was heißt das konkret?
Wir müssen in guten Nahverkehr, Breitbandausbau und die Gesundheitsversorgung investieren. Wir Grüne wollen ein neues Programm „Gleichwertige Lebensverhältnisse für alle“, mit Geld von den Ländern und vom Bund, das Regionen, die heute mit großen Versorgungsproblemen zu kämpfen haben, neue Chancen gibt. Urbanität ist spannend, aber gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass es auch auf dem Land Geschäfte und Kultur gibt und man gut von A nach B kommt. Die politischen Entwicklungen in den USA, aber auch in Frankreich lehren uns das.
Mit dem Einzelhandels-, dem Hotel- und Gaststättenverband und dem Deutschen Kulturrat haben Sie eine Initiative zur Rettung der Innenstädte gestartet. Wieso machen die Grünen das jetzt zu ihrem Anliegen?
Brenzlig ist die Lage der Innenstädte schon länger: Große Ketten verdrängen die alteingesessenen kleinen Läden um die Ecke, die Mall am Stadtrand und der Onlineriese ziehen die Kundschaft aus der Stadtmitte. Corona hat noch deutlicher gezeigt, was wir durch die zunehmende Verödung der Innenstädte und Ortszentren an sozialem Zusammenhalt und Kultur verlieren. Ich möchte, dass wir, wenn wir aus der Krise herauskommen, wissen, in welcher Art von Stadt wir künftig leben wollen. Schon während des ersten Shutdowns im Frühjahr 2020 fand ich spannend, was sich dadurch verändert, dass auf einmal Stille in den Städten herrschte. In Berlin wohne ich in der ehemaligen Einflugschneise des Flughafens Tegel und war froh, dass ich plötzlich auf dem Balkon sitzen und mich mit Leuten unterhalten konnte, ohne dauernd unterbrochen zu werden. Die Innenstädte haben sich beruhigt, nicht nur vom Lärm. Überall sind Pop-up-Radwege entstanden, weil die Leute gemerkt haben, dass das Rad viele Vorteile hat – auch den, dass man jetzt nicht eng beieinander in Bussen und Bahnen unterwegs ist und dass es häufig schneller geht. Wir sind plötzlich draußen an Orten, wo wir nicht konsumieren, sondern uns treffen und spazieren gehen, manche mit der Thermoskanne. Manchmal ist das ein wenig wie Bullerbü. Aber wir alle wollen ja auch, dass das Café um die Ecke wieder aufmacht und wir bald wieder ins Kino und Konzerte gehen können. Wir spüren, was uns die Innenstädte wert sind: als Orte des Zusammenseins und des Entdeckens.
Stattdessen wird der Lockdown immer wieder verlängert.
Deswegen müssen wir jetzt alles daran setzen, Pleiten zu verhindern. Und deswegen braucht es endlich unbürokratischere, faire und verständliche Hilfen, die alle Betriebskosten abdecken und einen UnternehmerInnenlohn für Soloselbständige. Inzwischen sind viele Programme zu unübersichtlich. Eine einheitliche Anlaufstelle, die z. B. den Kulturschaffenden die notwendigen Informationen, Beratungen und Hilfen anbietet, würde helfen.
Was wollen Sie längerfristig erreichen?
Ich möchte, dass Innenstädte Orte des Gemeinwesens sind. Dass man sie so menschen-, kind- und generationengerecht wie möglich gestaltet. Dass Autos nicht mehr Raum bekommen als Kinder zum Spielen und Erwachsene zum Umhergehen. Es gibt viele interessante Beispiele dafür, dass Stadtentwicklung auch etwas mit Zusammenleben zu tun hat. Auch in strukturschwachen Gegenden und Kleinstädten, wo sich die Leute keine Karte für die Oper in der nächsten Großstadt leisten können. Innenstädte und Ortskerne müssen wieder lebenswertere Orte werden. Darum wollen wir mit einem Städtebau-Notfallfonds die Abwärtsspirale, die mit Leerstand kommt, verhindern; Digitalisierungsideen, die kleinen Läden helfen oder Verkehr ökologisch machen, mit 290 Millionen Euro unterstützen und mehr in die Begrünung von Städten investieren.
Aber wieso gemeinsam mit dem Handel und der Gastronomie?
Weil auch sie erkennen, dass wir nur gemeinsam mit Kultur und Politik Innenstädte attraktiv halten können. Ich war erfreut, dass auch diese Verbände sagen: Autofreie Innenstädte sind für uns wichtig. Auch im Handel und der Gastronomie wird in der Krise über die Zukunft nachgedacht.
Gegen die Online-Konkurrenz wird der stationäre Handel aber auch in verkehrsberuhigten Innenstädten schwer bestehen können. Wie können, wie sollen die künftig aussehen?
Wohnen, Leben, Arbeiten müssen wieder zusammenpassen. Das Modell ist die Stadt der kurzen Wege wie in Kopenhagen, wo man das Gute am städtischen und ländlichen Leben zusammenbringt und Geschäfte, soziale Einrichtungen und Kultur auch ohne Auto erreichen kann. Ein kleines Beispiel: Man könnte städtische Büchereien auch sonntags öffnen. Die sind ja längst mehr als nur Buchausleihen, sondern Orte der Kultur und der Begegnung. Man könnte Museen für ein breiteres Publikum zugänglicher machen. Wir brauchen mehr Grünflächen, wo Bänke stehen, wo man einfach sein kann und sich trifft. Mit mobiler Kultur und mobilen Angeboten. In manches wird man investieren müssen. Aber ein Spielemobil etwa kostet nicht viel.
Ein gewaltiges Problem ist die Explosion der Mieten und Grundstückspreise. Für Familien, Alleinerziehende und Studenten ist das Leben in Großstädten kaum noch bezahlbar. Auch kleinere Geschäfte geben deshalb auf zugunsten großer Ketten. Was wollen Sie dagegen tun?
Wenn man will, dass Menschen in den Innenstädten wohnen und Kultureinrichtungen und Geschäfte erhalten bleiben, müssen wir das Mietrecht ändern und die horrenden Mieten stoppen. Der Gewerbemietbereich ist Wilder Westen. Wir brauchen da endlich eine Reform, nicht nur pandemiebedingte Erleichterungen. Und mit einer neuen Wohnungsgemeinnützigkeit könnte eine Vielzahl bezahlbarer Wohnungen entstehen. Auf der anderen Seite stehen jetzt viele Büros leer, weil die Pandemie gezeigt hat, dass die Mitarbeitenden gar nicht mehr dahin müssen, jedenfalls nicht jeden Tag. Da entsteht eine ganz neue Dynamik. Werden das riesengroße superteure Lofts oder Wohnungen, die bezahlbar sind? Wir müssen eine gute Mischung hinbekommen und dafür sorgen, dass in leer stehende Bürogebäude und Geschäfte soziale Träger, Clubs oder Kulturstätten einziehen. Kommunen können bei der Umwandlung von Büros steuernd eingreifen, über das Baurecht und kommunale Vorkaufsrechte. Kommunen können also mehr tun und besonders wichtige Bereiche sozusagen kuratieren. Das sollten wir stärken.
Also Innenstädte wieder als öffentliche Räume, nicht bloße Geschäfts- und Büroviertel?
Wir müssen Stadtplanung neu denken. Wenn wir wollen, dass Menschen wieder in die Innenstädte ziehen, muss man Räume schaffen, wo sie sich auch außerhalb ihrer Wohnungen aufhalten wollen. Wir schlagen neben besserem Schutz von Kultur, mehr Grünflächen und rad- und fußgängerfreundlichen Verkehrskonzepten vor, dass es mehr Vernetzungsinitiativen gibt. Das wird in manchen Städten schon erprobt. Innenstadtkümmerinnen und -kümmerer, die Branchen und Akteure zusammenbringen und unter Einbeziehung der Menschen vor Ort neue innovative Ideen anstoßen.
Städte sind in Beton gegossen. Häuser und Straßen lassen sich nicht so schnell verändern.
Im Osten sind im Rahmen eines großen Programms Plattenbauten zurückgebaut worden. Stadtplanerinnen und -planer haben da viel Fantasie, die muss man nutzen. Dafür müssen wir auch Geld in die Hand nehmen und mit den Bewohnerinnen und Bewohnern überlegen, wie sich die Innenstädte entwickeln sollen. Auch die Bauwirtschaft ist längst kreativ. Sie sagt, Beton wird in der Zukunft nicht mehr der Baustoff sein, sondern Holz. Das hat ein riesiges Potenzial für den Klimaschutz.
Wie wichtig ist das Kulturleben für eine Stadt?
Wie wichtig es ist, erleben wir umso mehr, seit wir es vermissen. Kultur ist nicht nur eine Beigabe, sie macht uns als Gesellschaft aus und hält uns den Spiegel vor. Dass wir sie zurzeit nur am Bildschirm erleben, ist ein Riesenverlust. Auch dafür müssen wir Räume erhalten und schaffen.
Europäische Städte waren oft auf Kirchen ausgerichtet. Welche Rolle spielen Gotteshäuser heute noch in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft?
Sie sind immer noch zentrale Orte der Begegnung. In der einen Kirche wird etwas für die religiöse Erbauung getan, in der anderen etwas für Kultur, in manchen wird Essen an Obdachlose ausgegeben oder es treffen sich Leute dort. Mir ist es wichtig, dass Kirchen schnell wieder geöffnet werden, wenn die Infektionslage es zulässt. Und als Christin hoffe ich, dass Orte des Gebets und des Gottesdienstes bleiben.
Vielen Dank.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2021.
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