Harald Hauswald und Hans Jessen - 30. Juni 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Ost-West-Perspektiven

„Wenn aus dem Bild eine Geschichte wird, ist es ein gutes Bild“


Fotograf und Ostkreuz-Gründungsmitglied Harald Hauswald im Gespräch

Bewusst oder unbewusst – mit hoher Wahrscheinlichkeit ist jedem schon mal eine Fotografie von Harald Hauswald begegnet: In gestochen scharfen schwarz-weißen Straßenfotos dokumentierte er das Leben in der DDR. Seine Aufnahmen vom Berliner Alexanderplatz haben sich in das Gesellschaftsgedächtnis eingebrannt. Hauswald gründete nach der Wende gemeinsam mit sechs DDR-Fotografen die Agentur der Fotografen: Ostkreuz, heute die erfolgreichste von Fotografen geführte Agentur Deutschlands. Hans Jessen spricht mit ihm.

 

Hans Jessen: Herr Hauswald, Sie haben mit 16 eine Fotografenlehre begonnen, zunächst im Geschäft Ihres Vaters, der Fotografenmeister war, dann bei einem anderen Meister. Diese Lehre haben Sie abgebrochen. Warum?
Harald Hauswald: Nach anderthalb Jahren in der Dunkelkammer und als Lampenhalter hatte ich noch nie einen Fotoapparat in der Hand gehabt. Ich bin ausgebrochen, hab dann in verschiedenen Tätigkeiten u.a. auf Baustellen und als Aufzugsmonteur gearbeitet. Es war damals in der DDR gang und gäbe, dass junge Leute viel getrampt und auch Bands hinterhergereist sind. Ein Gegenmodell zur FDJ-Schiene. 1972 bin ich rund 40.000 Kilometer getrampt – nur in der DDR, und einmal nach Ungarn. Geld hatte ich wenig. Also half ich den Bands, ihre Verstärkeranlagen aufzubauen. So kam ich umsonst in Konzerte, und backstage gab’s auch Verpflegung. Irgendwann war ich einer der ersten „Rock-Roadies“ der DDR – mit Berufsausweis.

 

Haben Sie in der Zeit fotografiert?
Nein, leider nicht. Ich hatte ja, wie gesagt, bis dahin nie einen Fotoapparat in der Hand gehabt. Ich habe den Roadie-Job 1972 bei der Band Bürkholz angefangen, ein halbes Jahr später das abrupte Ende: ich musste zur Armee.

 

Nach der Armee haben Sie die Fotografenlehre wieder aufgenommen. Warum?
Die Band Bürkholz war inzwischen verboten worden. Ich war ohne Job, ohne Berufsabschluss. An der TU Dresden bekam ich eine Stelle als ungelernter Fotograf, unter einem alten Fotografenmeister, wo ich handwerklich enorm viel gelernt habe – und eine Delegierung an die Fotografenschule nach Caputh bei Potsdam. Dort konnte ich 1976 meinen Fotografenabschluss nachmachen. Das hieß „Erwachsenenqualifizierung“. Ich habe einen Riesenrespekt vor Handwerk. Das versuche ich auch den Teilnehmern meiner jetzigen Workshops zu vermitteln: Sie sollen eine Ahnung vom Prozess kriegen, der in der Fotoarbeit steckt. Das muss so selbstverständlich werden, dass man nicht mehr drüber nachdenken muss, sondern es verinnerlicht. Eigentlich fängt dann erst das Fotografieren an.

 

Man sagt: Wer die Führerscheinprüfung besteht, darf Auto fahren, aber das Autofahren lernt man erst danach. Inwiefern gilt das auch für Ihre Entwicklung als Fotograf? Für die war ein Job als Telegrammbote im Prenzlauer Berg wichtig …
Dieses Lernen gilt bis heute. Die Arbeit mit der Kamera hatte in der wiederaufgenommenen Lehre in Dresden begonnen. Mein Chef dort gab mir am ersten Tag eine Kamera und ließ mich Fotos machen. Er war zwar dabei, hat sich aber als „Back-up“ im Hintergrund gehalten – für den Fall, dass meine Fotos nichts wären. Sie waren aber etwas und wurden in der Zeitung gedruckt. Plötzlich hatte ich Selbstbewusstsein. In Dresden begann ich, Landschaft und Architektur zu fotografieren, habe allmählich auch die Scheu vor Menschen abgelegt. Es ging darum, wann die Konstruktion eines Bildes stimmt. Ich glaube, man kann alles fotografieren, wenn man Spannung im Bild schafft.

 

1978 bin ich nach Berlin gezogen. Dort jobbte ich als Telegrammbote, weil ich von einem Tag auf den anderen hätte aufhören können, wenn mir eine Fotografenstelle angeboten worden wäre. Telegramme spielten in der DDR eine große Rolle, weil kaum jemand ein Telefon hatte. Als Telegrammbote kam ich nun wirklich auf jeden Hinterhof im Prenzlauer Berg und habe jeden Winkel gesehen. Die Kamera hatte ich immer dabei. Ich habe alles geknipst, was mich als Bild interessierte. Am Anfang oft Kinder und alte Leute – auch mit Teleobjektiv. Bis ein Freund sagte: „Schmeiß das Tele weg, nimm ein Weitwinkel, da kommst du näher ran.“

 

Haben Sie sich als Chronist empfunden?
Das habe ich damals nicht so empfunden, auch wenn es heute vielleicht zur Tatsache geworden ist. Fotografieren ist meine Eintrittskarte in die Welt. Die reicht heute über den damaligen Tellerrand hinaus, sie ist rund geworden. Ich bin neugierig – auf Begegnungen mit Menschen, auf Emotionen und darauf, es optisch umzusetzen. Am Anfang war ich noch relativ scheu. Später hat mir die Arbeit mit der Stephanus-Stiftung sehr geholfen. Behinderte zu fotografieren war ein wahnsinniger Lernprozess für die Annäherung an Menschen. Bei den Behinderten habe ich kapiert: Die kann ich fotografieren wie jeden anderen. Mit dem einen Unterschied: Sie lassen dich näher ran. Einer von ihnen sagte mal: „Eigentlich sind wir alle behindert – bloß bei uns haben sie es gemerkt.“ Diese Öffnung habe ich als Lernerfahrung auch auf die Straßenfotografie übertragen.

 

Unser Leben ist jeden Tag wie ein Film, der abläuft. Wenn Du den Fotoapparat hochhebst und ein Bild machst, ist das ein Ausschnitt dieses Films. Es geht darum, dass eine Geschichte erkennbar wird, und nicht nur ein Bildchen. Wenn aus dem Bild eine Geschichte wird, ist es ein gutes Bild.

 

Könnten Sie selbst definieren, ob Hauswald-Fotos ein gemeinsames Charakteristikum haben?
Das kann ich selbst schwer beurteilen, auch wenn mir oft nachgesagt wird, dass man meine Handschrift erkennt. Die schwarz-weiß Straßenfotografie war ausgeprägt in der DDR. Es gab viele Fotografen, die ihre Jobs hatten, aber damit unzufrieden waren und diese Sozialfotografie nebenbei gemacht haben. Es war eine Übernahme von „Magnum-Denken“ : Menschenwürdige Darstellung auf der Straße, das wäre die Kurzformel. Wobei Straße nicht nur Straße ist, sondern auch in Privaträume reingeht. Mir ist wichtig, die Menschen nicht zu denunzieren, aber sie darzustellen in einer Form, die dem Betrachter Nähe zulässt.

 

Fotografie ist Eintrittskarte in die Welt, war für mich aber auch der Versuch, mich vom Kopf her gegen die Umstände zu wehren. Befreiung.
Druck erzeugt Gegendruck, ich habe es bewusst gemacht – deswegen hat die Stasi das dann auch gesehen. Sie haben die Bilder genauso interpretiert, wie ich sie gemeint hatte. Das war auch ein Prozess. Bei illegalen „Wohnungslesungen“ lernte ich relativ schnell den Schriftsteller Lutz Rathenow kennen– er hat dann für die ersten Fotoveröffentlichungen im Westen gesorgt. Das war natürlich „staatsfeindlich“: Agententätigkeit, Staatshetze, Devisenvergehen. Das hätte zwölf Jahre Knast geben können. Seitdem durfte ich in der DDR praktisch nicht mehr veröffentlichen – außer in Kirchenzeitungen gab’s kaum noch etwas. Damit war der Weg vorgegeben, den ich dann weitergehen musste. Bis zum – für mich – gar nicht bitteren Ende. Für andere schon.

 

Hat Ihr Erfolg in Westmedien auch damit zu tun, dass Sie als in der DDR lebender Fotograf andere Dinge und Momente erspüren konnten, als jemand, der – handwerklich durchaus qualifiziert – von außen reinkommt?
Absolut. In den Fotos stecken teilweise Metaphern, die hätte ein Wessi gar nicht sehen können. Z. B. ein schwarz-weißes Foto aus Pankow: Da sitzen drei Alte vor einer Hauswand mit dem Transparent „Frieden ist nicht Sein, sondern Tun“. In der DDR eine normale Szene, da gab’s viele Transparente. Vor diesem saßen nun aber 15 Rentner, die gerade „sehr viel“ tun. Das Foto habe ich gemacht. Ich weiß nicht, ob ein Außenstehender diese Situation gesehen hätte. Was ich vorhin sagte: Da fängt eine Geschichte an.

 

1990 gründeten Sie mit sechs anderen Fotografen die Agentur „Ostkreuz“ – ein prägnanter Titel, zumindest jeder Berliner kennt den S-Bahnhof Ostkreuz – war das auch ein programmatischer Anspruch?
Eigentlich steckt dahinter, dass der „Stern“ rund um den Mauerfall aktiv wurde. Sie hatten erwogen, die Gründung einer Bildagentur mit 50 Fotografen zu unterstützen. Taten sie dann doch nicht, weil sie sich selbst Konkurrenz gemacht hätten. Anfang 1990 hatte die französische Regierung dann 200 DDR-Künstler zu einem zehntägigen Event nach Paris eingeladen. Maler, Fotografen, Rockbands… Wir saßen mit vier oder fünf Fotografen in Paris im Café und meinten: Diese Agentur ist zwar gestorben – aber irgendwas muss aus der DDR rauskommen. Dann machen wir eben keine große, sondern eine kleine, feine Agentur. In Berlin haben wir uns dann wieder getroffen und zwei Tage nach einem Namen gesucht. Wir wollten nichts aus der Fotografie nehmen, das war zu platt. Es musste DDR und der Standort Berlin drinstecken. Irgendjemand sagte dann: „Ostkreuz“. Als Bahnhof kennt das jeder, steht für Begegnung, verschiedene Himmelsrichtungen, Berlin steckt drin, DDR, Menschen, Bewegung – alles, was Fotografie ausmacht, steckt in dem Begriff. Das war’s. Im Nachhinein hat sich der Name als Glückstreffer herausgestellt.

 

Welche Rolle spielte die berühmte Agentur „Magnum“ als Referenzmodell?
Genau diese: Referenzmodell. Wir wollten eine von Fotografen geführte Agentur. Wir wollten keinen Geschäftsführer, der mit Fotografie nichts zu tun hat und es rein wirtschaftlich sieht. Wir wollten eine selbst geführte Agentur, die dem einzelnen Fotografen zwar Arbeiten abnimmt, Bürokram und Organisation, aber es sollte weiter der Austausch über Fotografie stattfinden. Agentur bedeutet auch Lobby. Wo der Fotograf als Einzelkämpfer oft dem Honorar hinterherjagt, sind die Kunden bei Agentur viel zahlungswilliger, weil sie keine Lust auf Rechtsanwalt haben. Und es ging um Verträge. Wir mussten auch aufpassen, nicht mit Dumping-Verträgen zulasten der Westfotografen eingekauft zu werden.

 

„Ostkreuz“ wird dieses Jahr 30. Die Agentur ist international etabliert, sie ist stetig gewachsen – derzeit über 20 Fotografen. Wie verhindern Sie Beliebigkeit, an der auch schon Agenturen gescheitert sind?
Indem wir für uns selber überschaubar bleiben. Am Anfang war das sehr streng. Wenn jemand eine größere Geschichte gemacht hat, gab es eine Vorabnahme durch mindestens zwei Kollegen. Das war in der Agentur unausgesprochen unvermeidlich, um eine Geschichte so einzudampfen, dass es eine gute Präsentation wird. Uns wurde im Nachhinein oft bestätigt, dass Ostkreuz bei den Bildredaktionen sehr willkommen war, weil sie eine strenge Auswahl gezeigt haben. Neben der gleichbleibenden Qualität der fotografischen Arbeit in jeweils individueller Ausprägung war das ein wichtiger Grundstein.

 

Jeder macht heute Fotos mit dem Handy oder Tablet, Bilder zum Nulltarif, die Elektronik regelt alles automatisch – ist das der Tod der Fotografie als Lichtbildkunst? Wäre dieser Fortschritt uns besser erspart geblieben?
Jein. Die Entwickelung ist durch den technischen Fortschritt unvermeidlich. Diese Phase gab`s eigentlich schon einmal: Als Fotografie entstand, ging es der Malerei genauso. Porträt- und Landschaftsmalerei waren erledigt, das konnte die Fotografie schneller, besser, realitätsnäher. Die Malerei wich aus und erfand den Expressionismus, neue Geschichten.
Die digitale Entwicklung hat ihre Berechtigung, auch wenn es lächerlich ist, was alles an Selfies produziert wird und im Bilderschrott landet. Aber okay, das ist eine Form von Volksbefriedigung. Analog-Fotografie nimmt wieder zu, geht aber in Richtung Kunstform und ernsthafte Dokumentarfotografie. Analogfotografie ist mehr daran orientiert, irgendwann mal an der Wand zu hängen. Entweder zu Hause oder im Museum. Digitalfotografie ist eher eine Netzblase. Die wird nicht platzen, sondern größer. Aber viele Bilder haben ein schnelles Verfallsdatum. Manchmal vermisse ich das gute, alte Fotoalbum mit den selbst eingeklebten Aufnahmen.

 

Vielen Dank.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08/2020.


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