Wolfgang Huebner - 30. Oktober 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Ost-West-Perspektiven

Ein schwieriger Weg


Die Integration des "Neuen Deutschland" in den Medienmarkt der alten Bundesrepublik

Wie integriert man 17 Millionen Menschen? Die zwar die gleiche Sprache sprechen, aber aus einem anderen Land, aus einem anderen System – aus einer anderen Welt kommen? Deren Lebensumstände sich in kurzer Zeit komplett wandelten, die eine neue politische Ordnung, eine neue Währung, einen neuen Arbeitsmarkt bekamen, andere Preise und Mietverhältnisse, neue Chefs, neue Versicherungen, eine neue Konsumwelt und vieles mehr? Aber auch ungeahnte Reiseperspektiven, Möglichkeiten der Mitsprache, Eigenverantwortung.

 

Es sollte schnell gehen; es musste schnell gehen mit der deutschen Vereinigung, sagen die beteiligten Politiker noch immer und berufen sich auf den Druck der Straße im Osten. Worüber sie weniger gern reden: Damals sah die im Westen regierende Union ein sich unverhofft öffnendes Fenster der Gelegenheiten, die Verhältnisse eines vereinten Deutschlands in ihrem Sinne zu regeln. Entstanden ist eine Einheit, der der Osten fast bedingungslos zustimmte und die für die Ostdeutschen so gut wie alles veränderte, für die Westdeutschen indessen wenig bis nichts. Der Osten bekam – auch weil viele danach riefen – das System, das der Westen längst hatte. Ein Beitritt; nicht wenige nennen es Anschluss.

 

Was das an Anpassungsdruck, an materiellen und mentalen Verwerfungen nach sich zog, sollte sich erst später zeigen. Wenn 17 Millionen Menschen einem System und einem Staat beitreten, müssen sie integriert werden. Das geschah mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, mit Fördermitteln. Es gab integre Aufbauhelfer, die in den Osten kamen, und Glücksritter, die den schnellen Gewinn suchten. Vieles an der Vereinigungspolitik war kurzsichtig politisch motiviert, von Partei- und Wirtschaftsinteressen geleitet, war nicht nachhaltig genug, wie wir heute wissen – und der Dimension der Aufgabe nicht angemessen. Eine Dimension, die erst aus der späten Draufsicht nach und nach erkennbar wird. In diesem neuen Deutschland musste sich das „Neue Deutschland“, die linke Zeitung aus dem Osten, einen Platz suchen und erkämpfen. Die Zeitung war keinesfalls willkommen; wäre es nach dem Willen der DDR-Nachlassverwalter gegangen, das Blatt wäre schnell von der Bildfläche verschwunden.

 

Auch das ist Integration: sich unter radikal anderen Bedingungen zurechtzufinden und zu behaupten; mit den Lesern im kritischen, aber nicht defätistischen Gespräch zu bleiben über Probleme der Vergangenheit und Defizite der Gegenwart; Teil eines kontroversen, aber nicht destruktiven Diskurses über demokratische Möglichkeiten und Herausforderungen zu werden.

 

Wir schreiben selbstverständlich auch über die Integration von Migranten, von Menschen mit Handicap, über die Inklusion im Bildungswesen, über
Fragen der Gendergerechtigkeit. Aber die größte Integrationsleistung des „Neuen Deutschland“ ist eine andere: seine Leser auf dem langen, schwierigen Weg in eine neue Gesellschaft zu begleiten, heute eine Plattform für kritische, linke Sichtweisen zu bieten und damit eine Lücke auf dem Medienmarkt der alten Bundesrepublik zu füllen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2019


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