Regine Möbius - 29. Oktober 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Ost-West-Perspektiven

Die Courage der Andersdenkenden


Opposition in der DDR

DDR-Geschichte – auch ihre Widerstandsgeschichte – kann nicht beurteilt werden ohne die Tatsache, dass die DDR vier Jahrzehnte ein entscheidendes Bauelement außenpolitischer Interessen der Sowjetunion war und von dieser erst quasi aufgegeben wurde, als das eigene Riesenreich ins Wanken geriet. Die Gründung der DDR, ihr 40-jähriger Bestand und ihr Untergang waren Ergebnisse weltpolitischer Situationen.

 

Der Filmregisseur und Bürgerrechtler Konrad Weiß schrieb im Sommer 1990: „Ich habe meine Heimat verloren, dieses graue, enge, hässliche Land (…). In diesem Land bin ich aufgewachsen, es war das Land meiner ersten Liebe, das Land meiner Träume, das Land meines Zorns (…).“

 

Heute, nach Jahrzehnten, können viele ehemalige DDR-Bürgerinnen und -Bürger sich kaum noch vorstellen, dass sie einmal „überzeugt“ waren, und in welchem Maß sie am politischen System mitgewirkt haben. Bis hin zu ehemaligen Politbüromitgliedern werden Geschichten des Widerstrebens, des Einspruchs und des Zurückziehens von ihnen berichtet. Natürlich gab es Situationen, in denen Bürger Verweigerungen androhten. Man wählte nicht oder bestellte die Zeitung ab, schrieb Eingaben oder blieb Versammlungen fern. Solange diese Nörgeleien keine politische Qualität erreichten, ließ die SED ihre Untertanen nörgeln. Dieses auf Gegenseitigkeit beruhende Stillhalteabkommen, das sich in den Jahrzehnten der SED-Herrschaft modifizierte, verwischte absichtsvoll die Grenze zwischen den Herrschenden und den Beherrschten.

 

Die tatsächliche Opposition in der DDR hatte sich in weiten Teilen lange Zeit religiös legitimiert und statt auf Auflösung und Liquidation der DDR zu dringen, eine verbesserte DDR gefordert. Die Verflechtung der Opposition mit der protestantischen Kirche schuf ein authentisches Gegengewicht zur geistigen und politischen Herrschaft der SED.

 

Betrachtet man die Widerstandsgeschichte von DDR-Bürgern, lassen sich vier Typen von Opposition benennen:

 

• Nach 1945 stellten die demokratischen Parteien CDU und LDPD – wenn auch in ihren Aktionen extrem behindert – in Ansätzen eine parlamentarische Opposition dar.
• Auch die Kirchen nahmen ersatzweise über einen langen Zeitraum eine oppositionelle Haltung ein.
• Die dritte Form einer oppositionellen Bewegung bildete sich in den sozialethischen Gruppen aus. Wehrdienstverweigerer, Antragsteller auf Ausreise aus der DDR gehörten dazu, ebenso die kirchliche Friedens- und Umweltbewegung.
• Erst im Frühjahr und Sommer 1989 entstand die vierte Form der politischen Opposition, als sich verschiedene Gruppen aus der kirchlichen Bindung lösten und sich zu Bürgerbewegungen und Parteien formierten.

 

Politischer Widerstand konnte sich im Unterschied zu den verschiedenen Oppositionsformen nur illegal formieren.

 

Der schon bald nach Gründung der DDR einsetzende Opportunismus und die millionenfache Flucht in die Westzone waren Ergebnisse der Okkupation des Staates durch die SED. Stalinistische Enge wurde zur Stütze der SED-Macht. Dazu gehörte die Erziehung zu einer sozialistischen Jugend, Arbeiterklasse und Intelligenz.

 

Deshalb wurde ein immer stärkerer Druck auch auf Studenten ausgeübt, in die Freie Deutsche Jugend (FDJ) einzutreten. Seinen vorläufigen Höhepunkt erreichten die Zwangsmaßnahmen gegen die umfassende politische Betätigung beispielsweise an der Universität Leipzig, als der frei gewählte Studentenrat im November 1948 abgesetzt wurde, um ihn mit FDJ-Mitgliedern neu zu installieren. Damit war eine demokratische Oppositionsarbeit nur noch im Untergrund möglich. Schlimmer noch war das Verbot einer nichtmarxistischen Hochschulgruppe, in dessen Folge den Mitgliedern dieser Gruppe am 12. November 1948 ihre Stipendien gestrichen wurden.

 

Gleichzeitig wuchs die Angst, nachts mithilfe der Besatzungsmacht verschleppt zu werden, wie bei dem Leipziger Studenten Wolfgang Natonek praktiziert. Er war Vorsitzender des einzigen, je in freier Wahl gewählten Studentenrates. Gleichzeitig war er Mitglied der LDP. Natonek knüpfte an die Traditionen der Geschwister Scholl an und forderte im Februar 1948 von der damaligen Universitätsleitung ein Fünfjahresgedenken.

 

Die kommunistischen Kader der Universität versuchten alles, Wolfgang Natonek auf ihre Seite zu bekommen. Als das nicht gelang, verschwand er am 11. November 1948. Die Verhaftung erfolgte heimlich durch einen sowjetischen Offizier und einen deutschen Instrukteur vom Kriminalamt Leipzig, Kommissariat K5, der Vorgängerorganisation der Staatssicherheit der DDR. Er wurde von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Die Anklage erstreckte sich auf Spionage, Sabotage und Mitwisserschaft eines Verbrechens, angeblich begangen von einem Kommilitonen, den er nicht angezeigt habe.

 

Nach über sieben Jahren wurde Wolfgang Natonek am 10. März 1956 aus der Haftanstalt Torgau entlassen und begnadigt mit der Auflage, Leipzig nicht verlassen zu dürfen. Doch er wählte den über Berlin noch möglichen Weg in die Bundesrepublik.

 

Es blieb nicht verborgen, dass sich ab dem Wintersemester 1949/50 um den Studenten Herbert Belter eine kleine Gruppe demokratisch gesinnter Studenten bildete, die mit Flugblättern versuchten, die Öffentlichkeit vor einer kommunistischen Diktatur zu warnen und gleichzeitig an der Universität die Informationspolitik SED-treuer Studenten, Dozenten und Professoren zu hinterfragen. Sie verteilten innerhalb der Universität selbst gefertigte Flugblätter, die zum Widerstand aufriefen. So auch in der Nacht des 4. Oktober 1950. Bei der Durchsuchung von Belters Wohnung fand man weitere Flugblätter und ein Notizbuch mit Namen. Daraufhin wurden die übrigen Gruppenmitglieder inhaftiert und einem sowjetischen Militärtribunal übergeben, das die Todesstrafe über Herbert Belter verhängte und Freiheitsstrafen zwischen 10 und 25 Jahren für die anderen Angeklagten. Belter und seine Verbündeten wurden deportiert, er selbst am 28. April 1951 in Moskau hingerichtet. Die Mitglieder der Gruppe wurden verurteilt und in sowjetische Arbeitslager gebracht, was für viele einer Todesstrafe gleichkam.

 


Ein ähnliches Schicksal widerfuhr Werner Ihmels. Bereits damals spielte der 1. Sekretär des Zentralrats der FDJ, Erich Honecker, eine Rolle in der Sowjetischen Besatzungszone als Verfechter einer staatlich gelenkten, kommunistischen Jugendpolitik, gegen deren Zwanghaftigkeit sich Ihmels auflehnte. Seine Familie riet ihm, die SBZ zu verlassen und das Studium in Tübingen fortzusetzen. Am 11. September 1947, dem Tag seiner Abreise, wurde er auf dem Leipziger Hauptbahnhof durch Mitglieder des 1934 in der UdSSR gegründeten Volkskommissariats für innere Angelegenheiten (NKWD) verhaftet. Ihmels starb am 25. Juni 1949 im Speziallager 4 – Bautzen I, „Gelbes Elend“.

 

Die SED wollte nun auch die Kirche als politischen und gesellschaftlichen Faktor ausschalten. Das Politbüro beschloss am 27. Januar 1953 einen umfangreichen Katalog von Maßnahmen gegen die Jungen Gemeinden. Verleumdungskampagnen gipfelten in Vorwürfen wie Agententätigkeit für den Westen, Sabotage-, Kriegs- und Mordhetze. In einer großen Verhaftungswelle wurden zahlreiche Jugendliche und über 70 Theologen und Jugendleiter inhaftiert. Zu den damals bekannten gehörten die Studentenpfarrer Johannes Hamel in Halle und Georg Siegfried Schmutzler in Leipzig.

 

Mit dem Bau der Mauer 1961 war ein unüberwindbarer Fakt geschaffen worden. Eine sprachlose Lähmung ergriff die Menschen.

 

Trotz der staatlich geschaffenen Isolierung durfte die Macht der SED weiterhin nicht infrage gestellt werden. So ordnete beispielsweise Kulturminister Klaus Gysi eine Überprüfung alle Amateurbands an, da der Beat – angeblicher Ausdruck westlicher Unmoral – eine flächendeckende Begeisterung unter der Jugend auslöste. Ein Großteil der Bands, die sich ihre gespielten Titel nicht vorschreiben ließen, wurden verboten. Die Proteste dagegen bekamen eine politische Dimension. Am 31. Oktober 1965 versammelten sich in der Leipziger Innenstadt über 500 Jugendliche, um gegen das faktische Verbot des Beat zu protestieren. Flugblätter hatten dazu aufgerufen. Es kam zu brutalem Vorgehen der Sicherheitskräfte. Etwa 250 Jugendliche wurden verhaftet, viele davon in Jugendwerkhöfe eingeliefert.

 

Mitte der 1970er Jahre kam es am Berliner Institut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften zu einem Ereignis, das an die Säuberungen der 1950er Jahre erinnerte. Um den Philosophen Peter Ruben hatte sich eine Gesprächsgruppe gebildet, deren Ziel es war, die geistigen Grundlagen des DDR-Sozialismus zu verbessern. Nach dogmatischen Auseinandersetzungen, gesteuert durch die Zentrale Parteikontrollkommission, wurde die Gruppe zerschlagen, die Beteiligten aus der SED ausgeschlossen, strafversetzt und mit Publikationsverboten belegt.

 

Der Begriff „unabhängige Friedensbewegung“ kam in der DDR um 1980 auf, als sich Friedensgruppen bildeten, die auf die weitere Militarisierung der Gesellschaft reagierten, die im Zuge der Krisenbewältigung der SED diese als Vorwand nahm zur eigenen Stärkung der Verteidigungskraft der DDR. Zu den bedeutendsten Friedensgruppen, die gegen dieses Disziplinierungsinstrument opponierten, gehörte der Berliner Friedenskreis „Anstiftung zum Frieden“. Der „Arbeitskreis Erziehung zum Frieden“ der Evangelischen Studentengemeinde Rostock hatte sich bereits 1979 gegründet. Der „Friedenskreis Vipperow“, der „Altendorfer Friedenskreis“, die überregionale Initiative „Frieden 83“, um nur einige zu nennen, waren Netzwerke, die in die Aktionen des „Sozialen Friedensdienstes“ und der Bewegung „Schwerter zu Pflugscharen“ einbezogen waren. „Wolfspelz“, eine der mutigsten Oppositionsgruppen, kristallisierte sich in Dresden heraus. Das Ministerium für Staatssicherheit bezeichnete diese Form der Opposition als „Aktivitäten reaktionärer imperialistischer Kreise im Sinne des Kreuzzuges gegen den Sozialismus (…)“.

 

Im März 1989 waren die Friedensgebete und andere Aktivitäten der Oppositionellen in Leipziger Kirchen von Protesten gegen die erneute Verhaftung von Václav Havel in der CSSR geprägt, im April reagierten sie auf die Lage von Wehrdienstverweigerern, am 7. Mai demonstrierten sie gegen offensichtlichen Wahlbetrug. Am folgenden Tag wurde zum Friedensgebet erstmals ein Polizeikessel um die Nikolaikirche gebildet.
Ende Juli begann ein Formierungsprozess der Opposition. Anfang September entstanden neue Organisationsformen, so Bürgerbewegungen wie „Neues Forum“ und „Demokratie jetzt“, politische Vereinigungen wie „Demokratischer Aufbruch“ und „Vereinigte Linke“. Sie lösten sich teilweise aus der Anbindung an die evangelische Kirche und beschleunigten den Aufbau ihrer Organisationen. Anfang Oktober bewirkte die Opposition, eine anwachsende Demonstrationswelle, eine massive Ausreisebewegung und damit letztendlich den Gewaltverzicht der SED am 9. Oktober in Leipzig. Mit dem Ende der DDR setzte das politische Ende der DDR-Opposition ein. Wenn auch die demokratische Opposition der DDR verschwand, bleibt der Kampf gegen ein totalitäres Regime ihr historisches Verdienst.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2020.


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