Hans Jessen - 29. Januar 2021 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Ost-West-Perspektiven

Der Stuhl der Stühle


Massenprodukt und Einzelstück gleichermaßen: Thonet Nr. 14

Welches Bild erscheint vor dem inneren Auge bei der knappen Bezeichnung: „Kaffeehausstuhl“? Sehr wahrscheinlich ein leichtes Möbel mit schwungvoll gebogener Rückenlehne, ebensolchen Stuhlbeinen, einer runden, geflochtenen Sitzfläche – fertig.

 

Dieser Stuhl, der jedem Zeichner einer Kaffeehausszene fast automatisch aus dem Stift kommt, gehört zum festen ikonografischen Bestand unseres bürgerlichen Weltbildes. Seit 150 Jahren in Form und Machart nahezu unverändert, ist der Stuhl mit der funktionalen Typenbezeichnung „Thonet Nr. 14“ ohne jeden Zweifel ein Klassiker, wenn nicht der Klassiker moderner Gebrauchsmöbel.

 

Dieser Stuhl vereint in einmaliger Weise Handwerkswissen und Industriegeschichte, ökonomische Effizienz und Funktionalität, die in der Synthese eines auch ästhetisch kaum steigerbaren Höhepunkts münden. Perfektes Design.

 

Dabei, und das gehört zur Ironie der Erfolgsgeschichte, hätte sein Schöpfer mit dem Begriff „Designer“ nicht im Entferntesten etwas anfangen können.

 

Michael Thonet aus dem rheinischen Boppard war ein Tischlermeister, der seit jungen Jahren daran arbeitete, Holz durch Biegung und Schichtverleimung in neue Formen zu bringen, die dann als Elemente im Möbelbau eingesetzt werden konnten.

 

Thonet war weder der erste noch der einzige Holzbearbeiter, der sich an der Formung versuchte – aber Beharrlichkeit, Neugier und Erfindergeist
ließen ihn zum Revolutionär industrieller Möbelfertigung werden, die im „Stuhl Nr. 14“ ihren höchsten Ausdruck fand. Dabei ist dieser Klassiker nicht Ausdruck eines genialischen Geistesblitzes, sondern logisches Resultat einer langen Experimentier- und Entwicklungsgeschichte.

 

Thonet war 1842 nach Wien gezogen, wo der Markt und das Interesse für seine Produkte aus geschichtetem, verleimtem und gebogenem Holz größer war als im rheinischen Boppard. Er fand Beachtung auf internationalen Ausstellungen, ihm wurde ein Patent auf die Holzverformung erteilt, gemeinsam mit seinen Söhnen begründete er eine eigene Werkstätte.

 

Das daraus die bedeutendste Möbelfabrik der Industriegeschichte des 19. Jahrhunderts wurde, deren Erfolg im „Stuhl Nr. 14“ kulminierte, war wesentlich begründet auf Thonets erfolgreicher Entwicklung der „Bugholztechnik“: runde Stangen aus massivem Holz wurden in heißem Wasserdampf so lange gekocht, bis sie weich waren und in Formen gebogen werden konnten, ohne zu brechen.

 

Holzverformung durch Dampf war schon früher bekannt, aber Thonet hatte es für serielle Möbelproduktion weiterentwickelt, 1856 erhielt er ein Patent, das der Firma rasanten Aufstieg durch diese neue Produktionsweise ermöglichte.

 

Thonet errichtete Fabriken in den waldreichen östlichen Regionen der habsburgischen Monarchie. Im mährischen Koritschan wurde ab 1859 „Stuhl Nr. 14“ produziert, der sich schon in den ersten Jahren zum internationalen Verkaufsschlager entwickelte.

 

Dieser Erfolg beruhte darauf, dass Michael Thonet und seine Söhne in einem historischen Zeitfenster Prinzipien zusammenbrachten: Sparsamer Materialeinsatz sowie Biegung des Holzes in endgültige Formstücke garantierten niedrige Produktionskosten, Eisenbahn und Dampfschiffe schufen internationale Transportwege, die öffentliche Lebensweise der aufstrebenden bürgerlichen Klasse des 19. Jahrhunderts hatte massenhaften Bedarf an solchen Möbeln. Deren Ausformung verbindet die Linien elegant reduzierter spätklassizistischer Bürgermöbel mit organischen Formen des aufkommenden Jugendstils. Auch ästhetisch ein Brückenschlag.

 

Thonets besondere Fähigkeit lag darin, im „historischen Fenster diese Möglichkeiten zu erkennen und zu nutzen“, so Thonet-Biograf Wolfgang Thillmann.

 

Ihm ging es darum, haltbare Möbel zu niedrigen Preisen zu schaffen. Ökonomische Effizienz war ein starker Antrieb, aus dem heraus er Prozesse revolutionierte: „Stuhl Nr. 14“ besteht aus nicht mehr als sechs gebogenen Holzelementen und zehn Schrauben, die zusammengesetzt einen ebenso leichten wie stabilen Stuhl ergeben; geliefert in demontierten Einzelteilen – eine von Thonet entwickelte Transportkiste fasste 36 Stühle in einem Kubikmeter, montiert wurde am Zielort.

 

Es war die gleiche Kostenlogik, die wir heute als Ikea-Prinzip kennen – nur eben 100 Jahre vor Ikea entwickelt. Gleichermaßen effizient reagierte Thonet auf Kundenwünsche: Als Kaffeehausbesitzer mehr Gäste unterbringen wollten, baute er eine Stuhlvariante mit knapperer Sitzfläche, 4 cm weniger im Durchmesser. Auch dies eine frühe Form der Komprimierung von Sitzraum, die wir später als enge Bestuhlung in Billig-Airlines kennengelernt haben.

 

Durch solche, von Thonet konsequent praktizierten Effizienz- und Reduktionsverfahren war „Nr. 14“ ein günstiges Massenprodukt: „3-Gulden-Stuhl“ hieß er wegen seines Verkaufspreises. Thonet war billiger als die Konkurrenz – ein Arbeiter in Thonets osteuropäischen Fabriken hätte dafür aber immerhin einen halben Wochenlohn hinlegen müssen, auch Niedriglöhner gehörten zu Thonets Konzept.

 

Wie viele Exemplare von „Nr. 14“ gefertigt wurden, lässt sich seriös nicht sagen. Bis 1930 sollen etwa 50 Millionen Stück produziert worden sein. Daneben gab – und gibt – es zahllose Kopien oder Nachbauten, auch aus osteuropäischen ehemaligen Thonet-Fabriken, die nach dem Zweiten Weltkrieg verstaatlicht worden waren.

 

Im hessischen Frankenberg, dem deutschen Thonet-Standort, wird heute noch ein modifiziertes Modell von Nr. 14 gefertigt. Nach dem gleichen Verfahren, wie es Michael Thonet vor 170 Jahren entwickelt hatte: In Wasserdampf weichgekochte Holzstangen werden von „Holzbiegern“ in Metallschienen eingelegt und verschraubt, wo sie beim Abkühlen feste neue Form annehmen.

 

Das geschieht nach wie vor in Handarbeit. Maschinen könnten es nicht, weil der organische Rohstoff Holz zwar verformbar ist, aber nicht willkürlich gegen die ursprüngliche gewachsene Struktur.

 

So ist jeder der Millionen „Thonet Nr. 14“ Massenprodukt und Einzelstück gleichermaßen. Auch diese Eigenart macht, neben der aus Effizienz ent-wickelten reduzierten Form, die wir auch „form follows function“ nennen dürfen, einen Teil des ästhetischen Reizes aus.

 

Perfektes Design, dessen Schöpfer sich nie als Designer begriffen hatte, sondern den Vorgaben von Material, Geschäftssinn, Neugier und Erfindergeist folgte.

 

Michael Thonet starb, als österreichischer Staatsbürger, vor genau 150 Jahren am 3. März 1871 in Wien.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2021.


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