Gerald Volkmer - 25. Januar 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Heimat-Identität

Mit der Heimat wird man nicht fertig


Das Heimatverständnis deutscher Minderheiten im östlichen Europa

Wie viel Heimat braucht der Mensch? So lautete der Titel eines studentischen Essaywettbewerbs, der 2013 von der Deutschen Gesellschaft e. V. ausgeschrieben worden war. 150 Studierende aus Deutschland, Russland, der Ukraine, Kasachstan und Usbekistan setzten sich darin mit dem Heimatverständnis und der Identität der Russlanddeutschen auseinander; die 30 besten Essays wurden 2014 veröffentlicht. Entstanden ist eine denkbar breite Palette an Annäherungsversuchen, in denen nicht nur nach dem „wie viel“, sondern auch nach dem „wo“ und „wieso“ gefragt wurde. „Ich trage mit mir und in mir die Sprache meiner Vorfahren. Ich habe nichts anderes vorzuweisen. Dokumente kann man fälschen. Namen kann man sich erheiraten. Meine Sprache, die ersten Worte, die ich in meinem Leben gehört und gesprochen habe, in ihnen finde ich meine Heimat“, betont die den plattdeutschen Dialekt der Mennoniten sprechende Elina Penner in ihrem Essay. Als die ersten Deutschen vor 250 Jahren von Zarin Katharina der Großen als Kolonisten geworben wurden, zählten die Freiheit der Person, des Glaubens und der Sprachwahl zu den wichtigsten Rechten der Siedler. 175 Jahre später – nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion – wurde zunächst etwa eine Million Russlanddeutsche, wie sie inzwischen hießen, nach Sibirien und Zentralasien deportiert. Eine Rückkehr in ihre alten Heimatorte und der Gebrauch ihrer Muttersprache wurde ihnen zwei Generationen lang verwehrt. Unter diesen prekären Umständen fiel die Idealisierung des Herkunftslandes Deutschland noch intensiver als bei anderen deutschen Minderheiten im „Ostblock“ aus.

 

Seit den 1980er Jahren verließen über zwei Millionen deutsche Aussiedler das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. „Jahrzehnte sind vergangen. Nur noch wenige Russlanddeutsche wagen den Schritt nach Deutschland“, stellt Margret Dick in ihrem Essay fest. „Mittlerweile hat sich herumgesprochen, dass in der alten Heimat nicht die Erfüllung aller Träume und die Glückseligkeit warten. (…) Hier wird einem nichts geschenkt, auch nicht die Heimat.“ Viele in Russland verbliebene Deutsche sind nicht nach Deutschland ausgewandert, weil sie Russland als ihre Heimat betrachten. Dabei betonen sie aber, dass sie „Russlanddeutsche“, keine „Russen“ seien. „Ich würde jedem Einzelnen (in Deutschland) die ganze Geschichte der Russlanddeutschen erzählen (…) um zu erklären, weshalb jede Reise nach Deutschland für mich eine Rückkehr zum Ursprung bedeutet und jede Fahrt nach Russland eine Rückkehr in die Heimat ist“, unterstreicht in ihrem Essay Anna German aus dem russischen Tscheljabinsk. Rund 400.000 bis 500.000 bekennen sich als Angehörige der deutschen Minderheiten in der Russischen Föderation, 182.000 in Kasachstan und 33.000 in der Ukraine. Rund 25.000 Deutsche verteilen sich auf Belarus, die Republik Moldau, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan.

Eine knappe halbe Million Deutsche lebt in Ostmittel- und Südosteuropa, in Ländern, die fast alle der Europäischen Union angehören. Die größten deutschen Minderheiten sind in Polen mit 148.000 bis 300.000, in Ungarn mit 132.000 bis 164.000 und in Rumänien mit 36.900 Personen zu Hause. Etwa 40.000 Deutsche verteilen sich auf Estland, Lettland, Litauen, Tschechien, die Slowakei, Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina sowie Serbien. Die über 800-jährige Geschichte der Deutschen im östlichen Europa endete zu einem großen Teil mit Hitlers Angriffs- und Vernichtungskrieg. Von den mehr als 18 Millionen Deutschen, die vor 1939 östlich von Oder und Neiße gelebt hatten, starben nach 1944 rund zwei Millionen infolge von Flucht, Vertreibung und Deportation. Etwa 12 Millionen erreichten bis 1950 das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland und der DDR sowie etwa 400.000 Österreich. Um das Jahr 1950 lebten vor allem im polnischen Oberschlesien, der slowakischen Zips, Ungarn, Rumänien und in den asiatischen Teilen der Sowjetunion noch über vier Millionen Deutsche, die aufgrund ihrer Diskriminierung als Angehörige einer deutschen Minderheit fast alle bis zur Jahrtausendwende als (Spät-)Aussiedler nach Deutschland ausgereist sind. Fragt man die vor Ort verbliebenen Deutschen nach den größten Herausforderungen, denen sich ihre Gruppe stellen müsse, werden Sprachverlust und Vereinsamung genannt. Ersteres ist eine Folge des strengen Verbots in den meisten Staaten des östlichen Europas, sich der deutschen Muttersprache zu bedienen, letzteres ein Resultat der Massenauswanderung und des hohen Altersdurchschnitts der deutschen Minderheiten. Auch Generationenkonflikte, die sich aus unterschiedlichen Einstellungen gegenüber einer möglichen Ausreise nach Deutschland, der Pflege des Brauchtums oder der Mehrheitsgesellschaft ergeben, belasten oft die deutschen Minderheiten. Dennoch konnten sich insbesondere die deutschen Gruppen in Polen, Ungarn und Rumänien konsolidieren, deren Gemeinschaftsleben inzwischen weitgehend von einer jüngeren Generation getragen wird.

 

Alfons Nossol gehört der alten Generation an, er ist ein oberschlesisches Original. Als Bischof von Opole/Oppeln hat er sich einen Namen als Brückenbauer zwischen Deutschen und Polen in Schlesien, aber auch zwischen Deutschland und Polen gemacht. Nach der politischen Wende von 1989 rief der Katholik „seine“ Deutschen in Oberschlesien zum Bleiben auf. Und die nach 1945 in seine Diözese gezogenen Polen bat er, ihm zu helfen, die „verbliebene einheimische Bevölkerung“ an „unsere herrliche schlesische Erde“ zu binden, schließlich sei sie für beide Gruppen eine „wirkliche Heimat“, denn „Schlesien wäre nicht mehr Schlesien“, wenn eine der beiden Gruppen das Land verließe, wird Nossol von der Zeitung „Die Zeit“ am 4. Mai 1990 zitiert. Da über 90 Prozent der Polendeutschen in Oberschlesien leben, ist das Heimatverständnis der deutschen Minderheit in Polen nicht von dieser Region zu trennen, deren zweisprachige Wochenzeitung übrigens „Heimat“ heißt. Nossol betont in dem von Christoph Bergner und Matthias Weber 2009 herausgegebenen Band „Aussiedler- und Minderheitenpolitik in Deutschland“, dass die historisch gewachsenen Kulturräume, die auch „überschaubare Erfahrungsräume der Geborgenheit“ seien, die „eigentliche Heimat“ der deutschen Minderheit darstellten. Er hebt die Bedeutung der „affektiv-emotionale(n) Identifizierung mit dem aus der Kindheit Vertrauten“ für das Heimatverständnis der Deutschen in Oberschlesien hervor und zählt dazu nicht nur die Landschaft mit ihren Erinnerungsorten, regionale Traditionen oder den lokalen Dialekt, sondern auch die prägende Rolle der katholischen Kirche. Dieser Regionalismus zeigt sich darin, dass viele Nachkommen der deutschen Oberschlesier bei Volkszählungen nicht die Kategorie „Deutsche“, sondern „Schlesier“ wählen, auch um sich dem nationalen Bekenntniszwang zu entziehen. Daher, aber auch weil bei der letzten Volkszählung nur etwa 40 Prozent der Polendeutschen angaben, Deutsch als Muttersprache zu sprechen, kann die tatsächliche Größe der deutschen Minderheit in Polen nur geschätzt werden.

 

Auch bei den Ungarndeutschen führt die Diskrepanz zwischen dem Bekenntnis zur deutschen Muttersprache und der Zuordnung zur „deutschen Nationalität“ zu einer gewissen Unschärfe bei der Erfassung der Größe der deutschen Minderheit. Diese konzentriert sich nicht in einer bestimmten Region, sondern lebt sowohl im Westen als auch im Süden Ungarns. Als nach dem Zweiten Weltkrieg etwa die Hälfte der Ungarndeutschen nach Deutschland vertrieben wurde, schlugen sich fünf bis sechs Prozent von ihnen, vor allem aus der Sowjetischen Besatzungszone, illegal wieder nach Ungarn durch. Für die donauschwäbischen Bauern bedeutete die Vertreibung „einen vollständigen existenziellen Zusammenbruch“. Die Entwurzelung und der Verlust der sozialen Einbettung schmerzten stärker als die Strapazen und Entbehrungen während der Zwangsaussiedlung. „Es gab schreckliches Heimweh, ein Heimweh, wie man es sich nicht vorstellen kann“, berichtet eine Zeitzeugin in dem von Ágnes Tóth verfassten Buch „Rückkehr nach Ungarn 1946-1950“, und eine andere ergänzt: „Wir sehnten uns nach der Heimat, wo unsere Wiege stand, wir wollten nicht in ein anderes Land. (…) Wir haben uns nur heimgesehnt, nur heimgesehnt. (…) Und sie sagten immer, dass man es nicht aussprechen könne, was das Zuhause, was die Heimat bedeute. Das fühle nur das Herz“. Dass sie trotz des strengen Rückkehrverbots und oft nach mehrmaliger Ausweisung immer wieder auf abenteuerliche Weise versuchten, nach Ungarn zurückzukehren, zeigt die besondere Anhänglichkeit der donauschwäbischen Bauern zu ihrem Heimatort. Ihr Drang, in die Heimat zurückzukehren, steht aber auch für ihre Loyalität gegenüber dem ungarischen Staat, die trotz der Magyarisierungspolitik der ungarischen Regierungen seit dem 19. Jahrhundert außergewöhnlich stark ausgeprägt ist. Beides drückt sich in der geringen Zahl ungarndeutscher Aussiedler aus, die ihr Land nach 1950 und auch nach 1989 in Richtung Deutschland verlassen haben.

 

Bleiben oder gehen? Diese Frage trieb auch die Rumäniendeutschen jahrzehntelang um, in den Gesprächen nach dem Sonntagsgottesdienst und anschließend zu Hause beim Mittagstisch. Die Repressionen und der Nationalismus der Ceaușescu-Diktatur hatten dazu geführt, dass sich viele Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben zunehmend fremd in der eigenen Heimat fühlten. Sie gingen, als sie gehen konnten, allein 111.000 im Jahr 1990, also etwa jeder zweite. Einige blieben trotzdem, gerade weil es „ihre“ Heimat ist – anders als jeder andere Ort auf dieser Welt. Einen Versuch, die kaum zu überblickende wissenschaftliche und künstlerische Auseinandersetzung mit dem Heimatverständnis der ausgereisten und vor Ort verbliebenen Rumäniendeutschen zu erfassen, unternahm die eingangs erwähnte Deutsche Gesellschaft im Jahr 2012. Auf einer Konferenz in der siebenbürgischen Universitätsstadt Cluj-Napoca/Klausenburg führte sie Forscher, Journalisten, Schriftsteller, Musiker und Maler zusammen, deren Ergebnisse 2014 von Ingeborg Szöllösi veröffentlicht wurden. Auf die Frage, was Heimat sei und wo sie gesucht werden könne, antwortete die Journalistin Beatrice Ungar pointiert: „Heute muss ich mich rechtfertigen, weil ich in meiner Heimatstadt wohne und nicht wie viele andere nach Deutschland ausgewandert bin. Es heißt, ich gehöre zu den ‚Restbeständen‘ der deutschen Minderheit in Rumänien. In diesem Zusammenhang fallen mir die Bezeichnungen wie ‚Heruntergekommene‘ für Rückkehrer und ‚Zurückgebliebene‘ für die in ihrer Heimat Verbliebenen ein. Auch bekommt man immer wieder zu hören: ‚Dort sind noch…, dort harren noch einige wenige aus…‘ Ich jedoch sage: Wir leben hier, wir harren nicht aus! (…) Auch das ist eine Definition von Heimat: Sie gehört uns! Und keiner weiß besser darüber Bescheid als wir selbst“. Am Ende der Konferenz konstatierte der Germanist Georg Aescht, dass jeder eine Heimat habe und mit ihr etwas anfangen können müsse, sei es nur, dass er sie verächtlich ignoriere. Die Bitterkeit, mit der über die unterschiedlichen Auffassungen von Heimat zuweilen gestritten werde, müsse nicht sein, denn es sei „genug Heimat für alle da, für alle zusammen und für jeden Einzelnen“. „Heimat ist ein Erlebnis auch für jenen, der glaubt, ein bisschen Brecht im Kopf und kein Brett davor reichten aus, mit dem, was da auf einen zukommt, fertig zu werden. Man wird nicht fertig damit, denn das hieße, dass man auch mit all den Menschen ‚fertig‘ wäre. Und das ist man nicht, hoffentlich noch lange nicht, nie.“

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 01-02/2019.


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