Philipp Hoffmann - 11. Februar 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Kulturerbe Fasching-Fastnacht-Karneval

Vom Geheimtipp zur närrischen Institution


Alternativen zu Fastnacht, Fasching und Karneval in Deutschland

Der Brauchkomplex Fasching, Fastnacht, Karneval hat seit den 1980er Jahren Konkurrenz bekommen. Als Parallelwelt, zeitlich zumeist angelehnt an die traditionellen Brauchgrenzen, sind neue, „alternative“ Karnevalsformate entstanden. Eine Gegenbewegung zu Prunk, Folklorisierung und fest tradierten Ritualen. Fastnacht, Fasching und Karneval wird als Fest der Reaktionäre und Spießer angesehen; viele Gegner verbringen die tollen Tage lieber gleich in der Ferne. Mit der Koalition aus Funktionären, Lokalprominenz und Politik, die den Dreiklang „Prinzenproklamation – Prunksitzung – Rosenmontagszug“ seit Jahrzehnten dominiert, möchte man nichts zu tun haben.

 

Doch wer mit Vereinsstrukturen, militaristisch anmutender Strenge, nicht enden wollenden Reihen von Gardisten, weinseligen Rednern und angestaubten Herrenwitzen nicht warm wird, findet heute in dem breiten Angebot alternativer Veranstaltungen schnell ein geeignetes Format. Immer nahe an der Grenze zu Comedy, Kabarett und Varieté hat sich in den letzten vier Dekaden eine feste Szene entwickelt. Doch der Gegenentwurf zur etablierten Narretei ist längst selbst etabliert. Närrischer Frohsinn und alternative Lebensmodelle schließen sich plötzlich nicht mehr aus. Heute vertreibt Kölns Stunksitzung in jedem Jahr annährend 50.000 Eintrittskarten. Die Sitzungsband „Köbes Underground“ bringt den Saal mit seinen Liedern zum Toben – auch außerhalb der Session. Die Sketche überziehen die Karnevalshochburgen, seine oft selbsternannten Eliten und – natürlich – den organisierten Karneval mit bissigem Spott.

 

Aber auch Grenzgänger finden sich immer regelmäßiger. Wer auf den traditionellen Karneval nicht verzichten, dennoch den bissigen Humor der alternativen Bewegung nicht missen möchte, genießt die Reise zwischen beiden Welten. Doch sind es nicht vielmehr zwei Seiten einer Medaille? Tatsächlich greift der heute als „alternativ“ bezeichnete Karneval die archaische Urform des Brauchkomplexes auf, wie sie bis zur romantischen Reform von Fasching, Fastnacht und Karneval – in Köln mit der Gründung des Festordnenden Comités 1823 vollzogen – in allen karnevalistischen Regionen vorlag. Denn während dem alten Brauch eine Ordnung gegeben wurde, erschienen das Fest und seine nun institutionalisierten Regularien selbst als Ziel karnevalistischer Umkehrungen. So inszenieren sich die organisierten Narren seit 1823 zwar als Rebellen und Antiautoritäten. Doch dienten die im romantischen Geist geschaffenen Strukturen gerade als Bollwerk gegen närrische Anarchie und Derbheit des Volksfestes. Unbeherrscht, frei von Satzungen und Regeln – quasi unbeherrschbar – greift der alternative Karneval hingegen auf die volkstümliche, bisweilen ungestüme Form eines Ur-Volks-Karnevals zurück. Neu war das auch vor 40 Jahren nicht: Die Geschichte zeigt, dass es immer wieder ein deutliches Desertieren von den karnevalistischen Regularien gegeben hat. Somit reiht sich der heutige alternative Karneval ein in eine lange Reihe von Ausbrüchen und Gegenbewegungen gegen die Institutionen des „geordneten“ Karnevals. Schließlich benötigt Humor keine Hierarchien.

 

Für viele fällt die Geburtsstunde des alternativen Karnevals mit der ersten Stunksitzung in Köln zusammen. Doch den 26. Februar 1984 und die erste Aufführung in der Alten Mensa der Universität zu Köln als alleinigen Nukleus zu bezeichnen, scheint einer typisch kölschen Sicht auf die Welt zu entstammen. In Bonn wurde nur unwesentlich früher, nämlich im Herbst 1983, mit der Veranstaltung „Pink Punk Pantheon „eine Alternative zum Brauchkomplex geschaffen. Die Kölner Bewegung der „Ahl Säu“ – auf hochdeutsch „alte Säue“ – führt sogar Traditionslinien zu den Künstler- und Lumpenbällen der 1920er Jahre. Und doch können die 1980er als Geburtsstunde der modernen Revolution gegen „Bierbauchbürgertum“ und „Humor-Gerontokratie“ – so Jörg Diehl 2012 im „Spiegel“ – gelten. Und die übrigen Karnevalshochburgen entlang der Rheinschiene folgten bald: Aachens „Strunxsitzung“ sorgte ab 1991 für Schlagzeilen, seit Mitte der 1990er Jahre ist auch Stunk in Neuss und Düsseldorf. Doch verlassen wir das Rheinland und werfen einen Blick auf die südlichen Regionen, die Regionen von Fasching und Fastnacht.

 

Seit Mitte der 1990er Jahre veranstalten die Mainzer „Drecksäck“ ihre „Trunksitzung“. Mit einer Mischung aus originell-satirischen Vorträgen und bitterbösen Programmpunkten gegen die traditionelle Mainzer Fastnacht schlagen die Gegen-Fastnachter dieselbe Richtung ein wie die rheinischen Nachbarn.

 

Weiter im Süden ist es dann wieder ganz anders: Die schwäbisch-alemannische Fastnacht stellt an sich bereits eine alternative Form zum Rheinischen Karneval dar. Der Brauchkomplex wurde – nachdem er als zu wild, archaisch und anarchisch galt und fast in Vergessenheit geraten war – zu Beginn des 20. Jahrhunderts wiederbelebt. Damit brach man mit der reformierten und institutionalisierten Form des Rheinischen Karnevals, die man im 19. Jahrhundert auch im Süden Deutschlands und in der Nordschweiz übernommen hatte. Die mittelalterlichen Wurzeln des Brauchkomplexes Fastnacht, Fasching, Karneval sind hingegen offensichtlich.

 

Doch eins haben die Alternativen zum traditionellen Karneval gemein: Vom ehemaligen Geheimtipp haben sich die Formate zu einem akzeptierten, festen Bestandteil des närrischen Treibens etabliert. Strukturen haben sich gefestigt, längst sind Geschäftsmodelle entstanden. Wir dürfen gespannt sein, wann sich die unbeherrschbaren Narren auch gegen diese Alternativen wenden und nach einem neuen Ventil für ihre Narrenfreiheit suchen.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2020.


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