Norbert Tempel - 5. Mai 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Industriekultur

International vernetzt


Das Deutsche TICCIH-Nationalkomitee

Mit dem Niedergang der alten Industrien, insbesondere des Montanwesens – Bergbau, Eisen und Stahl – und der Textilindustrie in den einst führenden Industrienationen im Westen Europas, begann das Interesse an der Dokumentation, Erforschung und Bewahrung ihrer Relikte. Ab den 1950er Jahren entwickelte sich von England ausgehend die Disziplin der Industriearchäologie, deren Ansätze und Methoden schrittweise von anderen Ländern übernommen wurden. Zusätzlichen Auftrieb verschaffte die schwedische „Grabe, wo du stehst“-Bewegung, die seit den späten 1970er Jahren in Westeuropa und den USA zur Gründung zahlloser Geschichtswerkstätten führte, in denen „Barfußhistoriker“ lokale Geschichte von unten erkundeten.

 

Meilensteine für die Etablierung des Themas in den führenden Industriestaaten waren die ersten internationalen Konferenzen 1973 in Ironbridge, einer Keimzelle der Industriellen Revolution in Großbritannien, und 1975 in Bochum. Nordrhein-Westfalen hatte 1970 mit seinem „NRW-Programm 1975“ als erstes Bundesland die Erhaltung von Bauten der Industrie und Technik in den Fokus gerückt. Als furioser Auftakt kann die Rettung der Jugendstil-Maschinenhalle der Zeche Zollern in Dortmund durch Dekret der Landesregierung am 31. Dezember 1969 gelten. In den folgenden Jahrzehnten sollte NRW weltweit führend in der Erhaltung und Umnutzung großer Industriedenkmale werden.

 

Die Konferenzen brachten Akademiker verschiedener Disziplinen und Praktiker auf dem Feld der Industriearchäologie zusammen und führten zur Gründung der einzigen weltumspannenden Organisation, die sich der Erforschung und Erhaltung des industriellen Erbes widmet und Lobbyarbeit für gefährdete Industriedenkmale leistet: TICCIH – The International Committee for the Conservation of the Industrial Heritage. Heute hat diese NGO mehr als 450 direkte Mitglieder in 50 Ländern, unzählige weitere sind über ihre nationalen Verbände mit angeschlossen. Institutionelle Heimat der deutschen TICCIH-Mitglieder ist die Georg-Agricola-Gesellschaft für Technikgeschichte und Industriekultur. Neben den klassischen Industrieländern sind zunehmend auch jene Staaten in das Netzwerk eingebunden, deren technisch-industrielle Entwicklung von ihrer Eigenschaft als Kolonial-, Schwellen- oder Entwicklungsland geprägt war. Mithilfe des großen TICCIH-Netzwerkes gelang die Etablierung der international verbreiteten Zeitschrift „Industriekultur“, die seit 25 Jahren über Denkmalpflege, Landschaft, Sozial-, Umwelt- und Technikgeschichte berichtet.

 

Alle drei Jahre veranstaltet TICCIH internationale Konferenzen mit zunehmender Beteiligung von asiatischen Fachkollegen, aber etwa auch aus Südamerika, Nordafrika oder dem Iran. Die nächste findet im Herbst 2021 im kanadischen Montreal unter dem Motto „Industrial Heritage Retooled“ statt. Die Potenziale industrieller Orte für neue Nutzungen wie als Identifikationspunkte für die Bevölkerung werden inzwischen weltweit hochgeschätzt. Die Umwandlung eines denkmalgeschützten Hüttenwerks zu einem öffentlichen Park auf dem Gelände der Meidericher Hütte dient als Vorbild für aktuelle Stadtentwicklungsprojekte in China: Die Anlagen des Hüttenwerks Shougang in Peking werden derzeit zu einem neuen Stadtquartier mit Büros, Sportstätten und Parkanlagen entwickelt.
Im Rahmen einer ständigen Kooperation mit dem internationalen Denkmalrat ICOMOS beteiligt sich TICCIH an der Ermittlung und Bewertung potenzieller UNESCO-Welterbestätten. In Deutschland gibt es seit Jahren eine enge, vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen beiden Verbänden. So wurden eine Reihe von Tagungen zu den Themen Industriedenkmale und Industrielle Kulturlandschaften gemeinsam veranstaltet und 2011 eine erste gemeinsame Publikation „Weltkulturerbe und Europäisches Kulturerbe-Siegel“ herausgegeben, die auch ausführlich die Potenziale des industriellen Erbes in Deutschland thematisierte. Anlass für die Tagung „Industrielle Kulturlandschaften im Welterbekontext“ 2015 in Dortmund war das aktuelle Projekt, die „Industrielle Kulturlandschaft Ruhrgebiet“ für ein UNESCO-Welterbe vorzuschlagen.

 

An der Ruhr ist in den letzten Jahrzehnten eine international beachtete Kulturlandschaft mit einer Vielzahl nachhaltig gemanagter industriekultureller Stätten entstanden. Die Dichte großformatiger Industriedenkmale, industriebedingter Siedlungen und Verkehrswege ist weltweit einzigartig. Wichtige Bausteine waren die Gründung des Westfälischen und des Rheinischen Industriemuseums (1979/84) und der Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur (1995), die Internationale Bauausstellung Emscherpark (1989-99), die erste touristische Route der Industriekultur überhaupt (1999) und die regelmäßig stattfindende „ExtraSchicht – Lange Nacht der Industriekultur“, die europäische Kulturhauptstadt RUHR 2010, Auslöser für einen seitdem ständig wachsenden Industriekultur-Tourismus, und nicht zuletzt der innovative ökologische Umbau des Emscher-Systems, der gleichwohl Aspekte der Denkmal- und Landschaftsbild-Pflege berücksichtigt. TICCIH unterstützt dieses Welterbeprojekt mit seiner Expertise.

 

Der Beitrag ist zuerst in Politik & Kultur 5/20 erschienen.


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