Heike Oevermann - 5. Mai 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Industriekultur

Erhaltung, Entwicklung, Erinnerung


Die Industriekultur im Spannungsfeld städtischer Transformationen

Eine von Politik, Kultur, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zunehmend als wichtig gesehene Aufgabe ist die Erhaltung von Industriebauten und technischen Anlagen, auch wenn sie aus ihrer ursprünglichen Nutzung herausgefallen sind. In den stark industriell geprägten Städten und Regionen wie in Berlin, im Saarland und Ruhrgebiet ist generell verstanden worden, dass die baulichen Hinterlassenschaften der Industrie und industriellen Arbeit – Produktionsstätten, Infrastrukturen, Wohnsiedlungen, Werksportanlagen und Weiteres – Auskunft geben über die Vergangenheit einer Region, aber gleichzeitig auch das Potenzial haben, dass Menschen sich mit ihrer Region identifizieren und aus historischen Entwicklungspfaden zukunftsfähige Wege entwickeln. Nicht zuletzt werden die Industriebauten als Möglichkeitsräume für alternative Formen des Zusammenlebens angesehen: die nachbarschaftliche und gemeinnützige Nutzung einer offenen Shedhalle im Hofe der dicht bebauten Stadt, die Experimente der Kultur und des Wirtschaftens in großen Hallen und mehrstöckigen Etagenfabriken oder die autofreien Außenräume auf ehemaligen Fabrikarealen.

 

In diesem Kontext wird vielfach von Industriekultur gesprochen: Industriekultur ist ein schillernder Begriff, der vielfältige Implikationen, Bedeutungen und Appelle miteinander verbindet, man denke an die Bezeichnung von Tilmann Buddensieg für Peter Behrens als Architekten der Industriekultur, an die Museumsansätze von Herrmann Glaser in den 1980er Jahren in Nürnberg, die das Alltagsleben der Industriekultur in den Blick nahmen, die Internationale Bauausstellung Emscher Park (1989-1999), die Industriekultur als Weg der Revitalisierung ebnete, und die industriearchäologischen Ansätze der Bergakademie Freiberg. Diese Ansätze verbindet, dass die technologischen Innovationen, die veränderte Produktion und Gestaltung und die Prägung der Stadt und des städtischen Lebens durch die Industrialisierung angesprochen werden, meist bezogen auf den Zeitraum von 1871 bis 1939, genauso wie die Frage, was wir heute mit ihren baulichen und infrastrukturellen Relikten und Errungenschaften anfangen.

 

Aus Sicht der Forschung gibt es dazu eine einfache rhetorische Gegenfrage: Wie soll die jüngere Geschichte Deutschlands und seiner Regionen und Städte verstanden werden, wenn die Zeugnisse der Industrialisierung verschwinden?

 

Betrachtet man den Umgang mit Industriekultur in den Regionen, wird deutlich, dass Industriekultur außerhalb des Ruhrgebietes kaum als Markenzeichen einer Stadt und Region beworben wird: Beispielsweise in Berlin stehen gesamtstädtische touristische Vermarktungsprozesse und industriekulturbezogene Umnutzungen unerkannt nebeneinander, erst der Blick auf einzelne Lokalitäten und Akteure zeigt, dass industriekulturelle Geschichte und Bauten auch im Hinblick auf gesamtstädtische Entwicklungen klug genutzt werden. Die erste Radroute der Industriekultur, erarbeitet vom Berliner Zentrum Industriekultur, zeigt das Potenzial, das entsteht, wenn Tourismus, Nachhaltigkeit und Industriekultur zusammengedacht werden. Hier bieten sich gerade für periphere Standorte und ländliche Räume Möglichkeiten der Erhaltung industrieller Prägungen und Entwicklung dieser besonderen Orte.

 

Ein weiterer wichtiger Ansatz sind die vielfachen industriekulturellen Projekte, die gemeinschaftliche Modelle darstellen und Wohnen, Arbeiten und nachbarschaftliche Aktivitäten organisieren. Hier spielen Stiftungen und Genossenschaften eine wichtige Rolle, die Grund und Boden der immobilienwirtschaftlichen Verwertung entziehen und damit die Grundlage für den gemeinsamen Prozess von Erhaltung, Entwicklung und Nutzung ohne höhere Renditeerwartung ermöglichen. Damit können dann auch wichtige soziale Funktionen der Nachbarschaft oder des Quartiers auf den Arealen beheimatet werden. Hier braucht es größere politische und administrative Unterstützungen dieser Initiativen, die von ExRotaprint in Berlin, zur Alten Samtfabrik in Krefeld bis hin zu Höfen frühindustrieller Agrarproduktion, z. B. in Prädikow in Brandenburg, reichen.

 

Schließlich müssen die musealen Ansätze und die Erinnerungskulturen erwähnt werden. Industriekultur hat auch vielfache dunkle Seiten. Wenig ist bislang erforscht, wie die globalen Handels- und Produktionsnetzwerke zu Umweltzerstörung, Ausbeutung und Sklavenarbeit beigetragen haben. Was heißt diese „Industriekultur global“ für die heutige internationale Zusammenarbeit? Zudem ist die Verstrickung in den Nationalsozialismus vieler deutscher Großkonzerne wenig öffentlich wahrnehmbar und müsste doch gerade in diesem Land ein zentrales Thema sein. Wenige Zwangsarbeiterlager und die Lebensschicksale der Menschen sind aufgearbeitet, thematisiert oder erhalten, wie das im Zwangsarbeiterlager in Berlin-Niederschöneweide erfolgt ist.

 

Bislang wenig erforscht und anerkannt ist die Industriekultur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Industriekultur könnte hier als Linse genutzt werden, durch die sowohl die Geschichte der DDR wie auch die der BRD gelesen werden kann. Die Forschung würde wohl mehr Gemeinsamkeiten herausarbeiten können, als die zwei unterschiedlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme zunächst vermuten lassen.

 

Mit den vielfältigen Erhaltungsmotivationen und unterschiedlichen Praktiken erhält auch der Denkmalschutz Impulse. Hier findet eine Auseinandersetzung über die Frage der Umnutzung, denkmalverträglichen Entwicklungen und möglichen Veränderungen von Bauten und Ensembles statt. Diese Diskussion unterstützt langfristig – hoffentlich – zwei wichtige Anliegen der Gesellschaft: erstens, die Einbeziehung vieler Akteure für die Benennung, Bewertung und denkmalverträglichen Entwicklung von Denkmalen, und zweitens, eine vermehrte Anerkennung baulicher Strukturen, die nicht denkmalwürdig sind, aber mit ihrer Erhaltung zur notwendigen Ressourcenschonung und nachhaltigen Stadtentwicklung beitragen.

 

Die Industriekultur steht im vielschichtigen Spannungsfeld von Erhaltung, Entwicklung, Erinnerung städtischer Transformationen, die nicht konfliktfrei sind, deren Aushandlungsprozesse uns aber die Möglichkeit geben, Bewährtes fortzusetzen, Neues auszuprobieren und Fehlentwicklungen der Vergangenheit aufzuarbeiten und gegenzusteuern. Wir brauchen die Forschung, um Grundlagen zum Thema „Industriekultur global“ zu erarbeiten sowie um vergleichend gute Beispiele und Modelle der Praxis her­auszuarbeiten, und wir brauchen die politische Unterstützung für die gemeinschaftliche Arbeit der vielfältigen Akteure.

 

Der Beitrag ist zuerst in Politik & Kultur 5/20 erschienen.


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