Bernd Paulowitz - 5. Mai 2020 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Industriekultur

Das größte historische Speicherensemble


Die Hamburger Speicherstadt und das Kontorhausviertel

Die Zeche Zollverein oder das Erzbergwerk Rammelsberg – mit Industrieerbe verbinden viele Menschen Orte wie diese. Mit der industriellen Revolution entstand aber ein weit facettenreicheres Erbe, zu dem beispielsweise auch Speicher oder Veredelungsanlagen als unterstützende Infrastrukturen zählen. Die Hamburger Welterbestätte „Speicherstadt und Kontorhausviertel mit Chilehaus“, seit 2015 eingetragen in die UNESCO-Welterbeliste, ist ein Prototyp einer solchen Stätte.

 

Mit der industriellen Revolution beschleunigte sich der Handel. Auch die Art und Weise, wie die Menschen sich mit Rohstoffen und Gütern versorgten, veränderte sich. Diese Veränderungen und der folgende wirtschaftliche Aufschwung prägten Hamburg, das sich im 19. Jahrhundert zu einer der bedeutendsten Hafenstädte Europas entwickelte, begünstigt durch den Zollanschluss von 1888. In seiner Folge wurde der Hafen erweitert und modernisiert – und die Speicherstadt, das modernste und größte Logistikzentrum seiner Zeit, entstand.

 

Am 29. Oktober 1888 wurde sie durch Kaiser Wilhelm II. mit den Worten „Zur Ehre Gottes, zum Besten des Reichs, zu Hamburgs Wohl!“ und drei kräftigen Schlägen eines silbernen Polierhammers eingeweiht. Sie verkörpert wie kein anderes Viertel in Hamburg die Veränderungen jener Zeit. Zwischen 1885 und 1927 gebaut, entstand ein technisches Schaustück der Superlative: 17 Speicherblöcke mit bis zu 330.000 Quadratmetern Lagerfläche, errichtet entlang neu geschaffener Fleete, verbunden durch 23 neu errichtete Brücken. Ein zentrales Kraftwerk, das Kesselhaus mit der Maschinenstation, versorgte alle Gebäude mit Druckwasser und Elektrizität.

 

Ergänzt wurde dies durch hochmoderne technische Infrastrukturen: Waren konnten mit hydraulisch betriebenen Windenanlagen vertikal transportiert werden, die Speicher wurden elektrisch beleuchtet und Telefonanlagen installiert.

 

Ein weiterer Aspekt dieses Industrieerbes ist die Art und Weise, wie hier geplant und gebaut wurde. Da die Speicherstadt auf mehreren Inseln in der Elbe errichtet wurde, mussten nahezu 3,5 Millionen Holzpfähle innerhalb weniger Jahre eingesetzt werden, um den morastigen Grund für die Speicher vorzubereiten. Die Bauaufgabe wurde gestalterisch auf beeindruckende Weise gelöst und gilt als Hauptwerk der „Hannoverschen Schule“. Flexible Skelettbauweisen mit modularen Lagerräumen wurden im neogotischen Stil mit Backstein verblendet. So entstanden die charakteristischen Fassaden. Das Ensemble wurde durch repräsentative Gebäude, treffend Schlösschen genannt, ergänzt. Heute ist das entstandene homogene Erscheinungsbild eine der typischen Hamburger Stadtansichten.

 

Auch das Kontorhausviertel mit dem ikonischen Chilehaus prägt das Hamburger Stadtbild. Gebaut wurde das Viertel vorwiegend in den 1920er und 1930er Jahren und war das erste reine Büroviertel Europas.
Die Speicherstadt und das Kontorhausviertel sind beispielhaft für die Entflechtung der Bereiche Wohnen, Arbeiten und Lagern, die vormals in einem Kontorhaus unter einem Dach stattfanden.

 

Die historischen, typisch schmalen Kontorhäuser, die wir in Amsterdam, Stralsund und Wismar bis heute finden, sind in Hamburg großen, monofunktionalen Gebäudekomplexen gewichen.

 

Dass wir hier heute die Geschichte der Wandlung im 19. Jahrhundert vor Ort erzählen können, ist nicht selbstverständlich. Es ist die Ironie der Geschichte, dass gerade die Revolution im Umgang mit den Waren durch die Containerschifffahrt den Erhalt der Speicherstadt möglich gemacht hat. Durch die moderne Schifffahrt von ihrer ursprünglichen Funktionalität befreit und geografisch für diese ungünstig gelegen, musste sich die „Stadt aus Speichern“ neu erfinden. Und das ist geglückt.

 

Heute ist sie das größte zusammenhängende historische Speicherensemble der Welt. Wo früher Kaffee, Tee, Kakao, Gewürze oder Tabak lagerten, haben heute Museen, Kreative und Werbeagenturen, Teppichhändler, die Verwaltung der Hafenlogistik und Gastronomiebetriebe ihren Sitz. Die Speicherstadt bleibt lebendig und in ihrer historischen Authentizität erhalten. Das Gebiet ist heute ein lebendiges Viertel an der Hafenkante. Das Industrieerbe Speicherstadt kann so im Sinne der UNESCO-Welterbekonvention für nachfolgende Generationen erhalten werden und bleibt authentisch erleb- und erfahrbar.

 

Der Beitrag ist zuerst in Politik & Kultur 5/20 erschienen.


Copyright: Alle Rechte bei Deutscher Kulturrat

Adresse: https://www.kulturrat.de/themen/heimat/industriekultur/das-groesste-historische-speicherensemble/