Der deutsche Klang
Die Suche nach Vielfalt im Orchester
Amerikaner, Franzosen, Japaner und Israelis haben – laut dem Musikjournalisten Axel Brüggemann – eine klare Vorstellung vom Klang eines deutschen Orchesters: „Erdig und sehnsuchtsdunkel“ tönt es demnach in Dresden, Berlin und München, aber auch in Saarbrücken, Rostock oder Konstanz – und in Bayreuth natürlich, wo sich jedes Jahr wieder der Spitzenklangkörper des Wagnersommers zusammenfindet.
Deutschland ist vielfach Weltmeister – auch in Hinsicht auf die schiere Menge an professionellen Orchestern. Insgesamt verdienen beinahe 10.000 Musiker in 129 öffentlich finanzierten Klangkörpern ihren Lebensunterhalt. Für die deutsche Orchester- (und Theater-)Landschaft läuft derzeit ein Antrag zur Anerkennung als immaterielles Kulturerbe der Menschheit bei der UNESCO. Eine klangmächtige, eindrucksvolle Kulturakteurin ist die Gesamtheit der deutschen Orchester also, die sowohl die musikalische Grundversorgung in der Fläche verantwortet, wie auch als Leuchtturm exzellenter musikalischer Praxis in die Welt hinausstrahlt.
„Was auch immer in den nächsten Monaten passiert, nichts darf die Deutschen davon abhalten, nach London zu kommen und so zu spielen“, schreibt beispielsweise die Times nach einem Konzert des BR-Symphonieorchesters in London Ende Januar 2019.
Weiter bekennt der Rezensent, dass er von Richard Strauss‘ Musik im Allgemeinen und besonders von seinem „Heldenleben“ üblicherweise nicht zu Tränen gerührt werde – aber bei diesem Konzert „der Deutschen“, da wurden seine Augen feucht. „Die Deutschen“ wurden dabei dirigiert vom Letten Mariss Jansons, ein Blick in die Broschüre des Orchesters offenbart einen multinationalen Hintergrund der Musiker: 16 Herkunftsländer auf vier Kontinenten werden ausgewiesen. Der deutsche Klang, er scheint inzwischen ganz offenbar ein Produkt erfolgreicher internationaler Zusammenarbeit zu sein – ganz genau so wie das deutsche Auto. Das offizielle Pressefoto dieser Saison zeigt das BR-Sinfonieorchester folgerichtig mit dem raumgreifenden Graffiti-Schriftzug „Vielfalt“ im Rücken.
Aber welche Vielfalt ist damit gemeint? In verschiedenen Aspekten ist diese eine natürliche Grundlage für die Orchesterarbeit: Das Repertoire umfasst Werke aus mehreren Jahrhunderten und unterschiedlichen nationalen Kontexten, die Orchestermusiker sind Experten ihrer Instrumente, die wiederum unterschiedlichen Instrumentenfamilien zugeordnet werden. Die Branche ist weltweit vernetzt und die Musiker, die nur gemeinsam den sehnsuchtsdunklen Klang erzeugen können, stammen aus vielen Ländern. In den letzten Jahren hat sich auch in den Reihen der Musiker einiges getan: Sie beziehen – unabhängig vom Geschlecht – das gleiche Gehalt, knapp 40 Prozent der Stellen sind durch Frauen besetzt und die gesellschaftliche Ablehnung von Frauen am Dirigentinnenpult, in der augenscheinlichen Führungsposition also, verliert auch an Kraft.
Das klingt doch schon ziemlich bunt, oder? Aber was wird davon real sichtbar – zumal im Orchesterkollektiv auf individuelle Prägungen der einzelnen Musiker naturgemäß keine Rücksicht genommen werden kann?
Die Aspekte von nationaler Vielfalt und Geschlechtergerechtigkeit im Klangkörper sind erste Schritte dazu, die Orchesterlandschaft nicht nur als Welterbe zu musealisieren. Um aber Öffnungsprozesse einzuleiten, die die gesellschaftliche Relevanz und Verantwortung der Orchester deutlich machen, gilt es auch, das administrative Personal in den Blick zu nehmen, zu analysieren, inwieweit die Personalstruktur Abbild der umgebenden (Stadt-)Gesellschaft ist. Die Ansprache des Publikums, korrekter: diverser möglicher Publikumsgruppen, muss ebenso unterschiedliche, vielfältige Kanäle bedienen. Dafür müssen Komplizen im kommunalen Umfeld gewonnen werden, die ganz unmittelbar Übersetzungs- und Vermittlungsdienste leisten. Gleichzeitig müssen Angebote geschaffen werden, die Partizipation auf vielen Ebenen ermöglicht. Wenn wir die deutsche Orchesterlandschaft mit diesem holistischen Ansatz in den Blick nehmen, wird der Klangkörper seiner gesellschaftlichen Verantwortung gerecht, werden zwangsläufig durch die künstlerisch-ästhetische Arbeit Fragen verhandelt, die das Zusammenleben, die gesellschaftlichen Bedingungen unmittelbar berühren und reflektieren: Die Kulturanbieter werden zu Kulturvermittlern, die Kulturkonsumenten werden selbst zu Kulturakteuren. Dafür muss der bekannte Konzertkanon nicht neu erfunden werden, aber er wird sich erweitern, wenn den vielfältigen kulturellen Erfahrungen aus Personal, Publikum und Partnern Raum gegeben wird und der Mut nicht nachlässt, die Verantwortung als Kulturvermittler in einer vielfältigen Gesellschaft ernst zu nehmen.
Auch hierfür sind landauf, landab gute Beispiele zu finden: der Symphonic Mob des Deutschen Symphonie-Orchesters, bei dem seit einigen Jahren mehrere tausend Laienmusiker gemeinsam mit Orchestermusikern auftreten, das Gewandhaus Leipzig, das mit seinem Vermittlungsprogramm „Impuls“ ganze Stadtteile in den Blick nimmt, oder die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, die mit der Gesamtschule Bremen-Ost eine „Wohngemeinschaft“ bildet, und schließlich die Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, beheimatet in Ludwigshafen, die als einziger klassischer Klangkörper für das Programm 360° der Kulturstiftung des Bundes ausgewählt wurde und einen Agenten für Diversität in ihrer Personalstruktur fest installiert. Für Kulturinstitutionen öffnet ein solcher Prozess der Diversitätsentwicklung einen Resonanzraum für die aktive Auseinandersetzung mit der sich stetig wandelnden Gesellschaft. Die Institution wird so zu einem dritten Ort der gesellschaftlichen Begegnung, an dem Staunen und ästhetisches Erleben für einen großen Teil der Bevölkerung möglich wird.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2019.
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