Der Ausstieg aus der Heimat

Freiheit als wiederkehrendes Motiv in der Bildenden Kunst

 

Der bürgerlichen Enge – der Heimat – entzogen sich auch alle Künstlerinnen und Künstler der Moderne, die auf bürgerlichen Widerstand stießen, daher auf sich gestellt waren und sich deshalb gern unter Gleichgesinnte mischten; Künstlerkolonien wurden beliebt. Ein gutes Beispiel ist Paula Modersohn-Becker. Sie war nirgendwo heimisch, doch in Worpswede konnte sie unter Gleichgesinnten ihrer Kunst ungestört nachgehen: eine Art Künstlerheimat. Griff sie aber Motive aus der Gegend auf, waren es vorzugsweise von den Winden gequälte, nackte Birkenstämme und keine netten heimatlichen Bauernhäuser oder schützende, stärkende Bäume. „Gestehen wir es nur“, schrieb Rainer Maria Rilke in seinem Buch über die Worpsweder, „die Landschaft ist ein Fremdes für uns und man ist furchtbar allein unter Bäumen, die blühen, und unter Bächen, die vorübergehen.“ Das war ein maßgebliches Zeitgefühl.

 

Als sich Heerscharen von Künstlern am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts für Monate oder Jahre nach Paris aufmachten, erhofften sie sich in der Weltstadt der Kunst jene Freiheit, die ihnen das abweisende Bürgertum zu Haus versagte. Gerade nicht die Heimat, das Eingewöhnte, sondern das Gegenteil, die fremde Welt der Neuerer, versprach fruchtbare schöpferische Auseinandersetzungen und Anregungen auf dem je individuellen Weg in die Moderne.

 

Die Künstler der „Brücke“ und des „Blauen Reiter“ genossen unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg das Landleben und pflegten gern ein zwangloses Dasein, jedoch bewusst in der Nähe der Städte, deren Vorzüge sie durchaus zu nutzen wussten. Es ging ihnen um die eigene Freiheit jenseits aller gesellschaftlichen Zwänge, auf dem Land wie in der Stadt. Gängige Heimatvorstellungen hatten darin keinen Platz.

 

So stellte sich der Hang zur Freiheit als Gegenpol zum Anschein des Einengenden der Heimat heraus. Edvard Munch siedelte auf der Spur der Geistesfreiheit vom Oslofjord nach Berlin in einen Kreis von Gleichgesinnten über; Ernst Ludwig Kirchner suchte auf Dauer Heilung an Leib und Seele in den Davoser Bergen; Paul Gauguin floh in der Hoffnung auf ein anderes Leben nach Tahiti. Das Resultat all dieser Revirements war die weitgehende Ortlosigkeit der Künstler in der Moderne.

 

Der Ausstieg aus der Heimat bedeutete also für die Künstler möglicherweise den Gewinn an Freiheit, auf jeden Fall aber war damit die Ortlosigkeit verbunden. Freiwillig wurde sie überall dort eingegangen, wo Künstlerinnen und Künstler sich für wechselnde Orte entschieden, die ihnen für ihr Weiterkommen viel wichtiger erschienen als die angestammte, vertraute Gegend. Wechselnde Orte, weil sie dort die jeweils attraktive Akademie, die wirkungsvollsten Galerien und engagiertesten Sammler vermuteten, sich in einem Kreis von Kollegen aufgehoben wähnten oder sich als Heimatlose auf dem Land Ruhe vor den städtischen Umtrieben und Machenschaften erhofften. Kontroverse Entscheidungen: Max Ernst ging aus künstlerischen Gründen von Köln nach Paris, Heinrich Vogeler aus politischen Gründen von Worpswede in die UdSSR.

 

Schwerwiegender waren die politisch erzwungenen Ortswechsel, Exil und Emigration während des Nationalsozialismus, wie sie etwa Josef Albers und George Grosz in den Vereinigten Staaten, Max Beckmann und Heinrich Campendonk in den Niederlanden, Lea Grundig in Palästina, Ludwig Meidner in England, Rudolf Belling in der Türkei, Felix Nussbaum in Belgien, Kurt Schwitters in Norwegen oder Anton Räderscheidt in Frankreich schmerzlich erfahren mussten.

 

Und wer noch nicht zwangsweise entwurzelt war, ging in die innere Emigration, wich in vermeintlich sicherere Gegenden aus. Um nur an vier Lebenswege von vielen zu erinnern: Die Stuttgarter Oskar Schlemmer und Willi Baumeister suchten Unterschlupf in einer Wuppertaler Lackfabrik; Otto Dix zog sich in die liebliche, aber ungeliebte Bodenseelandschaft zurück; Otto Pankok versteckte sich in der Eifel.

 

Anders erging es Künstlern, über die man politisch verfügte. Otto Freundlich wurde in Frankreich interniert und von Lager zu Lager geschleppt, neun waren es allein 1939/1940, nach einer Verhaftung kam er in weitere Lager, bevor er ins Vernichtungslager Sobibor verbracht wurde. Was blieb da noch von der Heimat?

 

Längst war sie in den Kitsch abgerutscht. Aus der noch soliden Form der Idylle des 19. Jahrhunderts wurde die völkische „Heimatkunst“. Heimat wurde politisch funktionalisiert, vollständig zu Zeiten des Nationalsozialismus, also in jenen Zeiten, in denen die Kunst der Moderne verfemt war, ihre Schöpfer verjagt und ihre Sammler verfolgt wurden.

 

Den Modernen aber galten das Haften am Vertrauten, Heimischen als kleinlich und hindernd. Die Distanz und das Fremdmachen des Vertrauten sowie die Einlassung auf das Fremde, Entfernte öffneten ihnen den Blick auf das Eigentliche, das Unheimliche der Natur sowie die Zerrissenheit der Welt und gab ihnen die Freiheit, die dazu nötigen Bildmittel immer wieder neu zu erfinden. Ein vielsinniges Weltgefühl leitete sie.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2019.

Uwe M. Schneede
Uwe M. Schneede leitete 1991 bis 2006 die Hamburger Kunsthalle.
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