Die Dialektik des Grünen Bandes

Die drastischen Maßnahmen gegen das Coronavirus vermindern nicht nur Krankheits- und Todesfälle durch Covid-19, sondern durch das massive Herunterfahren des Verkehrs und der Industrie in Deutschland wurden die Schadstoffemissionen deutlich gesenkt und die Luftqualität hat sich vor allem in Städten massiv verbessert. Die Gegensätze in den Dingen, die Dialektik, wird hier wieder einmal sichtbar.

 

Ein Paradebeispiel der Dialektik ist das Grüne Band. Der fast 1.400 Kilometer lange Geländestreifen entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze ist ein Naturparadies, weil es jahrzehntelang eine fast unüberwindliche Grenzanlage mitten durch Deutschland war. Seltene Vögel und Insekten haben hier Räume zum Überleben gefunden, weil nur wenige Menschen, meist Grenzpolizisten, das Gelände betreten durften. Die Grenze war eine unmenschliche, brutale Schneise mitten durch das Land, sie trennte Familien, Freunde, Ortschaften, und gerade deshalb haben seltene Pflanzen und Tiere hier überleben können.

 

Das Grüne Band ist aber nicht nur die heute noch sichtbare Teilung von Ost- und Westdeutschland, es verläuft weiter im Norden bis zum Eismeer am äußersten Ende Norwegens und im Süden bis zum Schwarzen Meer an der Grenze zur Türkei. Die Gesamtlänge beträgt 12.500 Kilometer, wobei es durch 24 Staaten verläuft.

 

Das Grüne Band ist das Überbleibsel des Eisernen Vorhangs, der Ost- und Westeuropa über Jahrzehnte hermetisch trennte, es ist das noch sichtbare Zeichen für den „Kalten Krieg“, der schnell zum heißen hätte werden können, es ist die Grenze zwischen zwei Systemen, dem Kapitalismus und dem Sozialismus, die um den richtigen Weg stritten. Wenn wir an das 20. Jahrhundert erinnern wollen, dann dürfen wir auch diese schmerzhafte Trennung nicht vergessen.

 

Nach dem Fall der Mauer wurden an der ehemaligen innerdeutschen Grenze und an der Grenze zwischen Ost- und Westberlin die Grenzanlagen fast vollständig demontiert. Nichts sollte mehr an die Teilung erinnern. Nur wenige Grenzfragmente sind stehen geblieben oder wurden später rekonstruiert. Ein Beispiel dafür ist die nationale Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße in Berlin. Für das Denkmal wurde ein 70 Meter langes Teilstück der Grenzanlagen an die Bernauer Straße verbracht, weil die originale Grenzmauer, wie fast überall in Berlin, direkt nach der Wende abgerissen wurde. Auch am Grünen Band stehen nur noch wenige Mauerstücke. Der berühmte kleine Ort Mödlareuth, der in der Mitte durch die deutsch-deutsche Grenze geteilt war, gehört zu den wenigen Orten, an denen man noch einen Eindruck von dem Grenzregime erhalten kann, wenn auch hier die Grenzartefakte räumlich zusammengeschoben wurden.
Leider wurde es nach dem Fall der Mauer versäumt, einen großräumigen authentischen Ort zu erhalten, um auch nachfolgenden Generationen einen Eindruck der Monstrosität dieses Bauwerkes vermitteln zu können.
Das Erinnern an die deutsche Teilung ist offensichtlich nicht nur wegen der fehlenden Artefakte schwer, nur so ist für mich zu erklären, warum es in Berlin kein öffentliches Spezialmuseum zur deutsch-deutschen Teilung gibt und die Erinnerungsarbeit hauptsächlich von kommerziellen Privatmuseen übernommen wird. Und auch die Entscheidung, das Freiheits- und Einheitsdenkmal – die berühmte Wippe – vor dem rekonstruierten preußischen Stadtschloss in Berlin und nicht an einem Ort der friedlichen Revolution aufzubauen, ist ein Zeichen für eine zutiefst gestörte deutsch-deutsche kollektive Erinnerung.

 

Das Grüne Band kann diese Versäumnisse nicht heilen, aber es kann in seiner Verbindung von Geschichte und Natur ein Gefühlsraum für die nachfolgenden Generationen sein. Wenn man über den ehemaligen
Kolonnenweg läuft, im Gelände noch die Gräben vor den heute demontierten Absperranlagen sieht und gleichzeitig dieses Kleinod der Natur erlebt, kann man trefflich über die Dialektik nicht nur der damaligen Zeit nachdenken.

 

Der Bund für Naturschutz Deutschland (BUND) und der Deutsche Kulturrat kooperieren seit einigen Jahren. Gestartet haben wir unsere Kooperation mit unserer gemeinsamen Kritik an den Freihandelsabkommen TTIP und CETA. Zusammen sind wir 2016 auf die Straße gegangen und haben erfolgreich gestritten.

 

Zwei Jahre später, 2018, haben wir dann mit Unterstützung des Rates für Nachhaltige Entwicklung ein gemeinsames Büro eingerichtet, um eine Brücke zwischen dem Nachhaltigkeitsdiskurs des Natur- und Umweltbereiches und kulturpolitischen Debatten zu schlagen. Intensiv haben wir dabei über das Thema „Heimat“ miteinander gesprochen. Was verbindet die kulturelle Heimat mit der Heimat der Naturbewahrung?

 

Jetzt, als nächsten Schritt, haben wir vereinbart, gemeinsam die Bemühungen zu unterstützen, das Grüne Band Deutschland und das Grüne Band Europa als UNESCO-Welterbe in den Kategorien Natur und Kultur zu nominieren.

 

Am Grünen Band ist Zeitgeschichte unmittelbar erlebbar und Erinnerung möglich. Ein Ort auch für die kommenden Generationen, der an Demokratie, Freiheit und Frieden in unserem Land und in ganz Europa erinnert. Dazu wollen wir einen Beitrag leisten, neue Begegnungsorte und attraktive Formen der Erinnerungskultur unterstützen, Menschen zusammenbringen und zeigen, dass Natur und Kultur keine Gegensätze sind. Die Dialektik von Natur und Kultur ist die Stärke des Grünen Bandes.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2020.

Olaf Zimmermann
Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Herausgeber und Chefredakteur von Politik & Kultur.
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