Jürgen Heizmann - 26. Februar 2019 Kulturrat_Logo_72dpi-01

Heimat-Kunst

Bilder und Geschichten aus der Provinz


Der Heimatfilm

Filme sind massenwirksame kulturelle Produkte, die unsere Vorstellungen von der Welt, von Gemeinschaft und Identität beeinflussen. Sie greifen Diskurse des politischen und gesellschaftlichen Lebens auf und prägen diese zugleich. In diesem Sinn haben Heimatfilme, neben anderen Medien, maßgeblichen Anteil daran, mit welchen Bildern, Stimmungen und Fantasien das so komplexe Wort Heimat verbunden wird. Begreift man Filmgenres als säkulare Mythen, die Erklärungsmuster für eine widersprüchliche Wirklichkeit bereithalten, kann man dem Heimatfilm bescheinigen, dass er Einblick in die Seelenlage einer Gemeinschaft gewährt und dieser ein Narrativ über ihr Woher und ihr Wohin, über ihre Anliegen, Ängste und Hoffnungen bietet.

 

Schon in der Frühzeit des Kinos gab es Heimatfilme. Sie gingen hervor aus Volksfilmen, Adaptionen der Dorfgeschichten von Ludwig Anzengruber und Ludwig Ganghofer, sowie aus Bergfilmen, die durch spektakuläre Naturaufnahmen des Regisseurs Arnold Fanck und die bald legendären Darsteller Leni Riefenstahl und Luis Trenker zu besonderer Popularität gelangten. Dieser Herkunft verdankt sich der Umstand, dass der prototypische Heimatfilm im ländlichen Raum angesiedelt und der Konflikt zwischen Tradition und Moderne eines seiner grundlegenden Themen ist. Denn die Industrialisierung, die im 19. Jahrhundert in Deutschland mit Verspätung, aber dann mit Rasanz einsetzte, hatte enorme Umwälzungen zur Folge: Wachsende Städte, Fabriken und Eisenbahntrassen vernichteten ländlichen Raum. Hinzu kam eine neue gesellschaftliche Mobilität: Auf der Suche nach Arbeit verließen mehr und mehr Menschen den Ort, an dem sie bisher gelebt hatten. Als Reaktion auf diese Veränderungen entstand eine zum Teil durch die Romantik inspirierte Literatur, die Heimat als Schutzraum zelebrierte und sie gegen die Bedrohungen durch Technik und Industrie verteidigte. Der Gegensatz vom gesunden, „echten“, auf Traditionen fußenden Leben auf dem Land und der krankhaften, verderbten und wurzellosen Existenz in den Städten wurde zu einer wichtigen Konstellation in der deutschen Kulturgeschichte, die auch den Heimatfilm bestimmte. Dessen Programm war, kurz gesagt, Eskapismus vor der Moderne. Wenig verwunderlich, dass die Nationalsozialisten sich dieses Filmgenre für ihre Blut-und-Boden-Ideologie zunutze machten.

 

Der Heimatfilm der Adenauerzeit knüpfte nahtlos an die Tradition der Vorkriegszeit an, nur ging es jetzt um den reibungslosen Aufbau der Bundesrepublik. Das Genre erreichte in dieser Zeit seine größte Popularität, rund 300 Filme wurden in den 1950er Jahren produziert, und ein Millionenpublikum ließ sich von ihnen zu Tränen rühren. Es gab in diesen Filmen keine zerstörten Städte, keine Kriegsschuld, keinen Zivilisationsbruch, Heimat wurde als paradiesischer Ort präsentiert, wo Politik und soziale Probleme unbekannt waren und wo sich das Wirtschaftswunder ganz ohne Fabrikschlote vollzog, da kam neben Pferdedroschken, Kirchen und Trachtenumzügen allenfalls einmal eine Benzinzapfsäule ins Bild, so sanft wurde den Zuschauern der Übergang in die freie Marktwirtschaft präsentiert. Es wirft ein bedenkliches Licht auf deutsche Mentalität, dass diese Filme noch heute von den Fernsehanstalten ausgestrahlt werden und sich großer Beliebtheit erfreuen, denn sie sind, wie jede Volksmusiksendung, nicht nur erzreaktionär, sondern täuschen auch eine Wirklichkeit vor, die es so nie gegeben hat. So ließ Hans Deppe, der Regisseur von „Schwarzwaldmädel“, mehrere Lastwagenladungen mit geschnitzter und gemalter Volkskunst in den Breisgau kommen, um den Schauplatz folkloristisch herauszuputzen, die ewig blühenden touristenfreundlichen Berg- und Heidelandschaften entstanden alle am Schneidetisch und leuchteten nur deshalb in so herrlichen Farben, weil sie mit der neuesten Technik von Agfacolor gefilmt wurden. Sicher: Wer nicht entwurzelt wurde, ermisst nicht, was Heimat bedeutet. Dieser Satz, ausgesprochen in „Grün ist die Heide“, fängt ein Stück Wirklichkeit ein, hatte doch jeder fünfte Deutsche damals einen Migrationshintergrund und musste seinen Platz im geschrumpften Vaterland finden. Doch kam Zeitgeschichte auf solche Weise momenthaft in den Blick, gab es immer nur Opfer, niemals Täter. Die traditionellen Heimatfilme waren Flucht vor jeder Realität und geschichtlichen Verantwortung, waren Regression in eine kindliche Traumwelt und zugleich Ersatz für den schwer beschädigten Nationalstolz, der durch das Unheil, das man selbst in die Welt gebracht hatte, obendrein zum Tabu geworden war.

 

Erst der kritische Heimatfilm der späten 1960er und 1970er Jahre, die sechsteilige österreichische Fernsehserie „Alpensaga“ und schließlich die elfteilige Chronik „Heimat“ des Regisseurs Edgar Reitz fanden den Weg zur sozialen, politischen und historischen Realität, von denen die Vorläufer nichts hatten wissen wollen. Sie befreiten die Darstellung des Landlebens von den bisher geltenden Klischees und setzten den Topos der unschuldigen Natur nicht länger ein, um die darin lebenden Menschen zu entlasten. Reitz’ Epos ist Ortsgeschichte im emphatischen Sinn, im Mikrokosmos eines Dorfes spiegelt sich die Geschichte Deutschlands von 1919 bis 1982. Dabei zeigt sich eine der Möglichkeiten und Stärken des Heimatfilms, die das Genre auch und gerade heute in Zeiten der Globalisierung, der Diversität und zunehmender Dynamik gesellschaftlicher Veränderungen aktuell erscheinen lassen: Ein Zugriff auf „das Ganze“ ist uns verwehrt, aber der Heimatfilm kann Denkweisen, sozialen Wandel und Auswirkungen politischer Entscheidungen in einem konkreten Erfahrungsraum präsentieren, kann zeigen, wie Bewohner eines Ortes Arbeitslosigkeit, Flüchtlingsproblematik, Diversität oder technische Veränderungen erleben und verstehen. Aufgrund seiner geringeren Dichte semantischer Elemente ist das provinzielle Setting dafür besser geeignet als das urbane, die Grenzlinien zwischen Tradiertem und Neuem, Eigenem und Fremdem, Integration und Ausschluss können im ländlichen Kontext viel deutlicher hervortreten.

 

Reitz’ Chronik hatte internationale Wirkung, so wurde die 2013 angelaufene Serie „The Village“ von der BBC als Großbritanniens Antwort auf „Heimat“ angekündigt. Auch außerhalb des deutschsprachigen Kulturraums gab und gibt es Filme, die – mal im Gewand der Komödie oder der Coming-of-Age-Story, mal in jenem des Sozialdramas oder der Satire – Themen und Anliegen des Heimatfilms aufgreifen. Das amerikanische „small town cinema“, das „prairie cinema“ und schon der Western; der schwedische „Landsbygdsfilm“; das französische „cinéma rurale“, das „cinéma paysan“ und, modernste Variante, das „cinéma du métissage“: Sie alle sind mit dem Heimatfilm vergleichbar, dienen wie dieser der Mythenbildung und der Konstruktion von Gemeinschaften. So stellt der Gegensatz von Natur und Zivilisation eine Konstante im amerikanischen Selbstverständnis dar. Hollywood feierte in vielen Filmen die Tugenden des einfachen Lebens in der Provinz und zeichnete die Stadt als Sündenbabel. Während der Agrarkrise in den 1980er Jahren, als im Mittleren Westen jede zehnte Farm Bankrott ging, ergriffen mehrere Filme Partei für die Farmer und präsentierten die Arbeit auf dem Land als den wahren „American way of life“, gleichbedeutend mit Freiheit und Unabhängigkeit. Dieser amerikanische Traum wird nun nicht mehr von den Gefahren der Wildnis bedroht, sondern von Banken und Staatsbeamten. Die Farm als Herz der Demokratie: Mit der Realität hatte das kaum noch etwas zu tun, der immense Reichtum der USA kam aus den Städten, die Filme repräsentierten nur den Traum einer längst verlorenen Unschuld. Auch das französische Kino kennt Sublimation dieser Form. Der Erfolg von Dany Boons „Bienvenue chez les Ch’tis“ hat auch damit zu tun, dass hier eine von der Globalisierung unberührte, simple, aber sympathische Region mit kauzigem Dialekt und merkwürdigen lokalen Bräuchen präsentiert wurde, in der es weder Wirtschaftskrisen noch Integrationsprobleme gibt.

 

In einer Zeit, in der sich alle Orte immer mehr gleichen und sich die Kultur zusehends entmaterialisiert, scheint die Sehnsucht nach Dialekt, regionalem Eigensinn und Überschaubarkeit zu wachsen. Der heutige Heimatfilm ist, wie der Engel Benjamins, oft einer Vergangenheit zugewandt, die längst in Trümmer zerfallen ist. Doch vermag er manchmal, aktuelle Lebenswirklichkeit auf die Leinwand zu bringen wie „Normandie nue“, der die Nöte von Bauern angesichts der EU-Agrarpolitik und der Dumpingpreise deutscher und rumänischer Fleischgroßhändler zum Ausgangspunkt nimmt. Oder der in einem schwäbischen Dorf angesiedelte Film „Landrauschen“, der zeigt: Die eigene Kultur ist selbst heterogen, die Jugendlichen sprechen zwar Dialekt und engagieren sich in Vereinen, doch sie suchen andere Lebensformen als die Eltern. Wenn von den somalischen Flüchtlingen am Ort gefordert wird, sich anzupassen, fragt sich, an wen? An welche Werte? Dies könnte Thema zukünftiger Heimatfilme sein.

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2019.


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